Gesellschaft Kultur Kunst Magazin

DHAKA – LUCERNE 840 Fotos des Alltags – ein Erfahrungsbericht8 min read

14. Juli 2020 6 min read

Autor:in:

Array

DHAKA – LUCERNE 840 Fotos des Alltags – ein Erfahrungsbericht8 min read

Reading Time: 6 minutes

Was kommt heraus, wenn sechs Menschen in zwei Ländern eine Woche lang jeden Tag zwanzig Fotos schiessen? Das Resultat sind 840 Fotos, die uns den persönlichen Alltag dieser sechs Menschen verbildlichen. Am Freitag, 10. Juli konnten die Fotografien dann in der Teiggi in Kriens bestaunt werden. Für mich ergab sich die Ehre, schon am Nachmittag vor der Vernissage einmal alleine durch die Ausstellung zu gehen und die Bilder auf mich wirken zu lassen. Bei den letzten Vorbereitungen fanden die Verantwortlichen auch noch einen Moment um mit mir über das Projekt zu sprechen.

 

So ist das Projekt entstanden

Im Rahmen der Zwischennutzung, iniziert durch die Baugenossenschaft Wohnwerk und der IG Kultur Luzern ist ein kooperatives Kunstprojekt entstanden zwischen Anna Gallati, Oscar Lussi und Julian Blum. Wie sollte nun dieser Raum gestaltet werden? Was soll gezeigt werden und vor allem wohin soll die Aufmerksamkeit der Besucher*innen gelenkt werden?

Geeinigt haben sich die drei auf eine Zusammenarbeit mit Amirul Rajiv, Bashir Ahmed Sujan und Naim Ul Hasan, drei Kunstschaffende aus Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs. Aber wieso genau Bangladesch?

Durch ein Praktikum im Architekturbüro von Kashef Chowdhury in Dhaka, hat Oscar eine Verbindung zum Land und zu vielen Menschen, die dort leben, aufgebaut. Die Motivation lag darin, den Kunstschaffenden eine Plattform zu bieten während einer Zeit, in der viele Menschen nicht mehr ihrem alltäglichen Beruf oder ihrer Leidenschaft nachgehen können. Zu Zeiten von COVID-19 sind Menschen in ihren vier Wänden eingesperrt oder werden gar von ihrem Vermieter rausgeschmissen und verlieren so ihr ganzes Hab und Gut. Eine Challenge war es auch innerhalb von drei Wochen ein Projekt aufzugleisen. Dies mit Menschen, die an einem weit entfernten Ort leben. Wie funktioniert eine Zusammenarbeit ausschliesslich über die digitalen Medien? Fehlt da nicht irgendwie die Kontrolle und es kommt nicht wirklich zu einem Dialog?

 

Der erste Gang durch die Ausstellung

Nach dem kurzen Gang in den Raum stösst man gleich auf die Fotos von Tag eins. Es ergibt sich dann einen Rundgang mit sieben Blöcken vorsichtig angeordneter Fotos im Postkartenformat. Die Fotos sind alle unbearbeitet. Von gestochen scharf bis zu stark verpixelt. Ziemlich schnell fiel mir auf, dass die Fotos, entstanden auf zwei unterschiedlichen Flecken Erde, teilweise in einander verschwimmen. So konnte ich bei einer Vielzahl der Fotos nicht deuten, ob diese in Bangladesch oder in der Schweiz geschossen wurden. Bei einzelnen Exemplaren war dann die Trennung jedoch unübersehbar. Es ist faszinierend zu merken, wie viel es ausmacht so viele Alltagseindrücke auf einmal zu sehen. Würden wir uns überhaupt noch an diese Momente erinnern, wenn wir sie nicht fotografisch festgehalten hätten? Schauen wir also ohne die Vorgabe Schnappschüsse zu machen überhaupt noch richtig hin? Mit den Fotos werden sämtliche Themen angeschnitten, welche die Gesellschaft bewegen. Alt trifft auf Modern. Natur trifft auf Stadt. Ruhe trifft auf Sturm. Die Fotos erzählen Geschichten, die einen Tag erzählen und teilweise auch eine ganze Woche. So bekommt man am Tag eins zum Beispiel einen Einblick in eine Wohnung einer Familie in Dhaka, einen Einblick in die Privatsphäre, die doch eher ein Tabu darstellt. Andererseits wird eine Geschichte erzählt von Freunden, die zusammen reisen und ihre Zeit geniessen.

 

Die Zahlen…

ACHTHUNDERT VIERZIG FOTOGRAFIEN DES ALLTAGS AUFGENOMMEN IN SIEBEN TAGEN VON SECHS KÜNSTLERN IN ZWEI LÄNDERN BANGLADESCH SCHWEIZ VERNISSAGE ZEHNTER JULI ZWANZIG ZWANZIG TEIGGI KRIENS ACHTZEHNUHR, so lautet die Beschreibung für die Ausstellung. Ich habe mich gefragt, wie sich die sechs Künstler auf die Zahlen der Ausstellung geeinigt haben. Ziemlich schnell sei klar gewesen, dass sich das Projekt über eine Woche erstrecken sollte. Um eine überschaubare Anzahl Bilder zu erhalten, schoss jede*r Künstler*in 20 Fotos pro Tag. Das bewusste Hervornehmen des Handys, um den eigenen Alltag abzulichten habe bei ihr zur Schärfung der Wahrnehmung geführt. Ein Anspruch der Konservierung war nicht vorhanden, meinte Anna. Beim Aufhängen der Bilder stellte sich die Frage, wie man mit so vielen Exemplaren umgeht. So haben sie die Bilder am Boden ausgelegt und nach Zusammenspiel und Gegensatz gesucht. Mit Laser haben sie Raster an die Wand projiziert und zu dritt die Bilder gleichzeitig aufgehängt. Schön wäre es natürlich gewesen, wenn die drei Bangladeschis auch dabei gewesen wären bei der Kuratierung der Ausstellung. Aus technischen Gründen war es jedoch nicht möglich dies zu sechst zu machen, da dort die Grenzen der digitalen Zusammenarbeit erreicht waren.

Die Entscheidung fiel auf die zwei Länder, da Oscar bei seinem Aufenthalt in Dhaka den Kurator Amirul Rajiv kennengelernt hat. Durch ihn erfuhren die Künstler*innen von den Zuständen für Kunstschaffende während Corona.

Es gibt nicht wie bei uns in der Schweiz ein System, das in Krisenzeiten Kulturschaffende unterstützt. Es gab eine grosse Landflucht, da nichts mehr die Menschen in der Stadt hielt. Da war der Gedankengang nahe eine Ausstellung zu gestalten, von welcher der Erlös schliesslich an Kulturschaffende in Dhaka gehen soll.

Von grossem Interesse war es auch zu erfahren, wieso man für die Werbung im Voraus nicht einfach nur eine Variante einer Dreierserie von Plakaten genommen hatte, sondern mehrere Variationen davon, die beliebig kombiniert werden konnten. Die Antwort war, dass das Projekt von der Vermischung lebe und dass sowohl die Bilder in der Ausstellung als auch die Werbeplakate nicht für sich selber stehen müssen und dies auch nicht tun. Wieso dann nur eines von 840 Fotos für die Werbung benutzen?

 

 

Sich auf Augenhöhe begegnen…

Obwohl die Erträge der Ausstellung an die Kunstschaffenden in Dhaka gehen, sollte das Projekt von den Besuchern nicht als Spendenaktion verstanden werden. Es sollte ein neuer Bezug zwischen zwei Kulturen entstehen, bei dem man sich auf Augenhöhe begegnet. Wichtig war die Gleichstellung und der spannende Dialog zwischen den sechs Menschen, die am Projekt beteiligt waren. Man entschied sich also nicht für eine Kunstausstellung in der nur vollinszenierte Bilder von Dhaka gezeigt werden, sondern für eine Ausstellung mit Schnappschüssen des Alltags aus der Schweiz und Bangladesch.

 

Bangladesch, ein Ort mit grossem kulturellem Schatz und nicht nur Katastrophengebiet

Was vermutlich viele Leute nicht wissen und ich vor dem Gespräch mit Oscar auch nicht gewusst hatte, ist, dass Bangladesch international bekannt ist für Fotografie. Auch Muzharul Islam, der erste modernistische Architekt stammt aus Bangladesch. Ein weiterer bekannter Name ist Ravi Shankar, ein Musiker und Komponist, der das Zupfinstrument Sitar spielen konnte. Der Dichter Rabindranath Tagore gewann 1913 den Nobelpreis für Literatur. Der grosse kulturelle Schatz, welcher dieses südasiatische Land zu bieten hat, wird vor allem durch die Nachrichten von Unwetterkatastrophen übertönt. Auch der bekannte Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza im Jahre 2013 blieb uns stark in Erinnerung. Die Berichterstattungen über das Land sind einseitig, doch der Fluss des Know-hows geht schon längstens nicht mehr nur von Westen nach Osten. Es findet ein Austausch statt, der von zentraler Wichtigkeit ist. Umso wichtiger wird das Begegnen auf Augenhöhe und die Bedeutung von Überlagerung von Kulturen. In Sachen Offenheit bewusst nach aussen zu zeigen, können wir von Bangladesch noch einiges lernen. Niklaus Graber, Architekt, der selber schon in Dhaka Gastdozent war und Oskar die Praktikumstelle bei Kashef Chowdhury vermittelt hatte, hielt die Eröffnungsrede für die Ausstellung. Er gab dem Publikum vor sich zu fragen, was weit weg und was nah sei. Seine Antwort auf die Frage war, dass egal ob weit weg oder nah, ein Dialog über Grenzen hinweg geführt werden muss, denn schliesslich sind wir alle auf dieser Welt zu Hause. Dabei führt er in einen Begriff der Bangladeschis ein: «Akash», was soviel wie Himmel und zusammenhängender Raum bedeutet. Dies impliziert genau das grenzenlose Denken, welches mit der Ausstellung gefördert werden sollte.

 

Der zweite Gang durch die Ausstellung

Der zweite Gang durch die Ausstellung machte ich am Abend mit vielen anderen Menschen, die den Weg in die Teiggi gefunden hatten. Nun standen auf dem Tisch in der Mitte vom Raum ein grosser Blumenstrauss, Desinfektionsmittel und schön aufgereihte sieben Stapel mit Karten. Auf diesen Karten wurden Piktogramme der aufgeklebten Fotos abgebildet. Wenn man nun gerne ein Foto bestellen wollte, konnte man einfach das entsprechende Feld ankreuzen, die Karte in ein Couvert verpacken und dieses mit seiner Adresse versehen. Unten an der Bar konnte man bezahlen und darf sich nun auf Post im Verlauf der nächsten zwei Wochen freuen. Nicht nur auf dem Tisch im Ausstellungsraum hat sich seit dem Nachmittag was getan. Auch an der Fotowand hat sich das Eine oder Andere eingeschlichen. Nun waren die siebenmal Hundertzwanzig Fotos mit den Wochentagen versehen. Damit die drei Bangladeschis auch anwesend sein konnten an der Vernissage, wurden sie live zugeschalten über ein Handy, welches an die Wand zwischen die Fotos geklebt wurde. Jede*r der/die wollte, konnte mit den drei Künstlern sprechen, was der Ausstellung einen interaktiven Touch verlieh. Bei diesem zweiten Gang fiel mir auf, wie viele Fotos ich beim ersten Gang übersehen hatte. Ich schloss daraus, dass man wohl noch einige Male durch die Ausstellung gehen könnte und immer wieder Neues sehen würde.

Durch das Gespräch mit den Verantwortlichen im Voraus und die Rede von Niklaus Graber lief ich schliesslich ganz anders durch die Ausstellung. Der Fokus lag ganz klar bei diesem Begegnen auf Augenhöhe und dem Dialog über Grenzen hinweg.

 

Am Donnerstag, 16. Juli ab 15:00 findet die Finissage der Ausstellung statt.

Wenn noch nicht gewesen, dann bei Möglichkeit in die Teiggi gehen!

 

Fotos: Genia Blum

 

Array