Gesellschaft Magazin

Der 27. Blick – Ein Winkel aus der nahen Fremde6 min read

28. Januar 2023 4 min read

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Der 27. Blick – Ein Winkel aus der nahen Fremde6 min read

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Unser Autor ist Wahlluzerner. Als Deutscher in der Zentralschweiz erzählt er uns von seinem Blick auf unseren Kosmos. Eine Geschichte aus dem 27. Kanton, die von  Angstzuständen, Flaggenkunde und dem hoffnungslosen Wunsch einer Niederlassungsbewilligung handelt.

 Text von Matheus Ventura Lang

Auf einem Spaziergang entlang der Reuss fällt mir – eines Tages plötzlich – was Merkwürdiges auf, als ich am Luzerner Stadthaus vorbeilaufe. Es fällt mir auf, dass am prächtigen Gebäude, das die gemütliche Kleinmetropole am Fusse des Pilatus – Luzern – repräsentiert, die bekannte zwölfsternige Flagge mit dem blauen Hintergrund hängt. Man assoziiert sie meistens mit dem Hoheitssymbol der Europäischen Union. Aber wie könnte es denn sein, dass ein solches internationales Zeichen die urige zentralschweizerische Symbolik eines Stadthauses am Ufer des Vierwaldstättersees befleckt? Und dies, ohne dass es die Bürger:innen der Stadt wahrnehmen?

Es ist gegen Ende des Sommers und ich muss mich zum ersten Mal mit kafkaesken bürokratischen Angelegenheiten des Amtes für Migration auseinandersetzen. Dies, damit ich weiterhin meinen Aufenthalt in der Schweiz fortsetzen darf. Ich bin zu der Zeit nicht vertraut mit dem eidgenössischen «Sonderstatus». Für mich – und ich schätze die meisten meiner Generation – ist das vernetzte grenzenlose Europa eine Selbstverständlichkeit. Es ist so fest verankert im Bewusstsein, dass ich mich manchmal schwer tue, mir diesem Privileg bewusst zu sein.

Regeln dies- und jenseits der Grenze

«Brexit» ist schon zu diesem Zeitpunkt Thema. Aber mir ist eine solche geopolitische Frage immer noch eine Art Gedankenübung einer «Welt der Möglichkeiten», die mir irgendwie zu fern scheint, um Realität werden zu können. Für mich als Südwürttemberger ist die Eidgenossenschaft nichts Neues.

Ich kenne sowohl die Grenze, als auch Leute dies- und jenseits dieser. Sie ist für mich aber eine Art Abstraktion. Ich fahre frei durch sie hoch und runter. Kiel oder Hamburg seien definitiv mehr «Ausland» als Schaffhausen und Zürich. Selbst die – von einigen Deutschen «befürchtete» – Mundart gibt mir ein geborgenes Gefühl von «daheim», nämlich sie ist nicht unbedingt viel anders als die Sprache meiner Gegend.

In der bürgerlichen Welt der Regeln und Normen spielt aber die Subjektivität meines Empfindens keine Rolle. Doch schlussendlich habe ich ein anderes Ausweisdokument als meine Mitbürger:innen in der Stadt, die ich mir als Wahlheimat erkoren habe. Das setzt klare Grenzen. Wie könnte es aber sein, dass in Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts ein kleines Land meinen würde es sei «anders», oder «eigener» als seine Nachbarn?

Alemannisch ist nicht gleich «Deutsch»

Mir gefällt die Selbstverständlichkeit des Gebrauchs vom Dialekt in allen alltäglichen Situationen. Die Dialektvielfalt wird regelrecht gelebt. Ich beneide diese Einstellung, die mir damals in der Grundschule entnommen wurde. So hiess es, dass es ausserhalb der Normen der Schriftsprache «keine Sprache» gäbe und dass das «anarchische Geschwätz» «eigentlich kein Deutsch» sei. Blödsinn. Erst meine Zeit in der Zentralschweiz zeigt mir wieder, dass diese «Zweisprachigkeit in der Muttersprache», wie sie der Luzerner Schriftsteller Peter Bichsel einst nannte, noch zu retten ist.

Ich stehe vor dem Stadthaus eine gute Viertelstunde, perplex vor dem was ich sehe und halte den kleinen lilafarbigen Ausländerausweis in meiner Hosentasche fest. Bald würde er auslaufen und ich weiss nicht was ich tun könnte, um die Gültigkeit dieses Stücks Papierkram zu verlängern. Die Behörden wollen, dass ich nachweise, mich finanziell aufrechthalten zu können. Aber wie sollte dies in so einem – für meine einfachen studentischen Verhältnisse – teuren Ort geschehen?

Vexillologische Verwirrungen

Mehrere Gedanken fliessen durch meinen halbwegs verwirrten und verzweifelten Kopf während das Fähnlein weiter in der Sommerbrise weht. Wäre ich in der EU, käme die ganze Diskussion gar nicht mal in Frage. Ich befinde mich aber nicht in der EU und trotz meiner Bewunderung für die Berge und Menschen, die mich umgeben, steht dieser Widerspruch verkörpert vor meinen blossen Augen.

Nach der ursprünglichen Perplexität und Verwirrung fange ich aber an wütend zu werden. Da stehe ich, vor dem historischen Bau, unter der heissen Sonne, völlig verschwitzt – sei es von der Hitze als auch von der plötzlichen Angstkrise – und ohne jeglicher Ahnung was passieren sollte. Was passieren sollte mit  meinem Leben in Luzern. Ich brauche Antworten. Mein Herzrasen sagt mir diese sollten mir so schnell wie möglich gebracht werden.

Wenn ein Land nicht Teil der EU ist und trotzdem von ihrer Symbolik Gebrauch macht, ist dies zweifellos katastrophal und es widerspricht dem Völkerrecht, denke ich mir. Ich müsste diesen Fall irgendwo melden. Wer sei aber denn für diese Schnapsidee verantwortlich? Wem gehören letzten Endes die «Copyrights»? Ich weiss nicht viel darüber, doch eins ist mir gewiss: Google würde es bestimmt besser wissen als ich.

Google hat die Antwort

Ich fasse rasch mit der Hand in die Hosentasche, nehme mein Handy hervor und fange zitternd an zu tippen. «Wenn man schon EU-Hoheitszeichen verwendet, sollten sie mir zumindest eine Niederlassungsbewilligung anbieten», denke ich mir. Ich stelle mir vor, wie viele Menschen ich schweizweit glücklich machen könnte, indem ich dieses «Leck im System» an die Öffentlichkeit bringe. Ich träume für ein paar Sekunden weiter, während die städtische Wärme mir die Neuronen weiter frittiert. Nicht lang dauert aber meine Hoffnung.

Schliesslich ist es Google in all seiner Weisheit der «flüssigen Moderne», der mich wieder zur ernüchternden Wirklichkeit zurückbringt. Die Flagge hinge schon am Gebäude seit Jahrzehnten. Sie wurde anscheinend zum Anlass des Beitritts der Schweiz zum Europarat gehisst, Anfang der 60er Jahre. Damals gab es noch keine EU – zumindest nicht so, wie wir sie heute kennen. Und die bekannte blaue zwölfsternige Flagge diente auch anderen Organisationen als Symbol, wie beispielsweise dem Europarat.

Details, die nerven

Das Fähnlein blieb vermutlich unbemerkt in all diesen Jahren, bis es mir diese kleine Spitzenspannung Adrenalin vorbereitete. Lustigerweise gab es vor ein paar Jahren mutmasslich schon Beschwerden von Seiten der Luzerner SVP bezüglich der offensichtlichen Möglichkeit einer Fehlinterpretation in der Symbolik des Hoheitszeichens am Gebäude.

Vielleicht bin ich nicht der Einzige, der versuchte, von der unerbittlichen Komplexität eines Alltags in der Moderne abzuweichen. Vermutlich, indem ich dieser historischen urbanen Landschaft einige Momente und Nerven schenkte. Von Träumen lebt aber der moderne Mensch nicht.

Der Sommer vergeht und so zerfallen auch meine Pläne und Hoffnungen, meinen Aufenthalt in Luzern zu verlängern. Ich kam als «Fremder» und trotz der Umstände verlasse ich die Stadt mit dem Gefühl mich zu Hause zu fühlen mehr denn je. Manchmal entbergen uns unerwartete Momente im Leben Dinge, die einfach in uns bleiben. Ich bin – wie wir alle – nur ein Mensch in einem unzähligen Haufen von Symbolen, deren Bedeutung – wie unsere Wirklichkeit – öfters trüb und vielfältig ist.

Bild: Dušan Cvetanović

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