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zu laut gedacht – Eine Welt ohne Geschlechter?5 min read

15. Mai 2023 4 min read

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zu laut gedacht – Eine Welt ohne Geschlechter?5 min read

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Immer philosophisch, manchmal gesellschaftskritisch, aber nie zurückhaltend: «zu laut gedacht» verspricht genau das. Hier wird Gott und die Welt hinterfragt und zum kritischen Denken animiert. Die Kolumne wird über das Verbotene nachdenken und das Unerlaubte aussprechen. Mehr gegen den Strom als mit dem Strom, provokativ statt umgänglich und ganz bestimmt nicht konventionell – so dass sich sagen lässt: «Jetzt hat sie doch wahrlich zu laut gedacht.»

Ein Text von Phoenix Fawkes

Seit jüngster Zeit spaltet eine Angelegenheit die Meinungen der Menschen: Das Abschaffen der Geschlechterkategorien. Die einen, die sich nie zu einer der binären Kategorien von «Mann» und «Frau» zugehörig fühlten, jubeln und blicken hoffnungsvoll in die Zukunft. Endlich werden sie gesehen und von der Gesellschaft so akzeptiert, wie sie sind, statt dass sie sich mit Müh’ und Not in stereotypische Schubladen hineinzwängen müssen.

Die anderen, die sich schon immer in denselben Kategorien wohl und bestätigt fühlten, verstehen die Welt nicht mehr: «Wir waren doch schon immer Männer und Frauen! Das Geschlecht, das wir seit der Geburt haben, ist eine unveränderbare Tatsache! Männer und Frauen sind einfach anders – auf so vielen Ebenen! Was meinen die denn, wenn sie sagen, sie sind non-binär und fühlen sich zu keinem Geschlecht zugehörig? Die wollen doch nur rebellieren!»

Ein Realitätscheck

Erstaunt wären sie, wenn sie wüssten, dass nur eine ihrer Aussagen wahr ist. Nein, es gab nicht schon immer Männer und Frauen. Die dualistische Geschlechterunterteilung ist historisch relativ jung: Erst mit dem 18. Jahrhundert bestand ein politisches Interesse, biologisch distinkte Geschlechter zu schaffen. Ab da wurde ein Zwei-Geschlechter-Modell verfolgt, welches ein Frausein in den Unterleib verordnet oder die Menstruation als ein Kennzeichen von Frauen anerkannt. Zuvor galt das Ein-Geschlechter-Modell, welches den Mann als die Norm betrachtete und die Frau als eine Art des Mannes.

Auch dass das Geschlecht, mit dem wir auf die Welt kommen, eine unveränderbare Tatsache ist, stimmt nicht. Dank der fortgeschrittenen Medizin haben viele Menschen die Möglichkeit, ihr Geschlecht anzupassen. Viele Eigenschaften, die als männlich oder weiblich betrachtet werden, sind nur anerzogen und nicht von Natur so bestimmt. Frauen und Männer sind anders, weil sie anders behandelt wurden und somit andere Erfahrungen machten. Die Geschlechter sind somit historischem und kulturellem Werden ausgesetzt – sie sind stets im Wandel.

Wahr ist jedoch folgende Aussage: Non-binäre Menschen, die sich zu keinem Geschlecht zugehörig fühlen, wollen rebellieren. Ja, das wollen sie. Sie rebellieren gegen die veralteten Stereotypen der Geschlechter; gegen die heteronormative Gesellschaft; gegen die sture Rollenverteilung und vor allem gegen die Ausgrenzung von Menschen, die nicht in dieses System passen.

Die fehlende Logik der Geschlechterkategorien

Und sie rebellieren mit Recht: Wieso wurde aufgrund der biologischen Unterscheidung von «Mann» und «Frau» eine binäre Geschlechtertrennung erschaffen, wenn es doch schon von Natur auch intergeschlechtliche Menschen gibt? Es wird geschätzt, dass bis zu 1.7% der Menschen, sprich 132 Millionen Menschen, intergeschlechtlich auf die Welt kamen und nie in das binäre System gepasst haben. Zusätzlich sind die Bilder von «männlich» und «weiblich» praktisch willkürlich: Wieso sollen Männer in die Politik und die Wirtschaft gehören und Frauen in die Kindererziehungsarbeit und die Pflegebereiche? Wieso sollen Frauen fürsorglich sein und Männer dominant? So viele Fragen können gestellt werden, doch die wichtigste ist folgende: Wer hat all diese Normen aufgestellt und was war ihre Begründung?

Logisch scheint sie nicht zu sein, wohl eher zufällig. Kein Wunder erkennen die Menschen diese Absurdität und verlangen nach einer Veränderung dieser Rollenbilder oder sogar nach einer Abschaffung der Geschlechterunterscheidung allgemein. Denn praktisch niemand passt in diese «männlichen» oder «weiblichen» Zuschreibungen. Was ist, wenn ein Mann untrainiert und klein ist, sich zu schminken liebt, Röcke trägt und in der Pflege arbeitet? Ist er dann noch ein «männlicher» Mann? Wer passt denn überhaupt in diese Kategorien? Klar, könnte man die Definition von Frausein und Mannsein auch erweitern – doch, wenn die Definition so willkürlich ist und so viele Menschen ausgeschlossen werden, wieso sollte man nicht einfach die Geschlechterunterscheidungen abschaffen?

Was passiert mit der Diskriminierung der Frauen?

Doch wenn die Geschlechterunterscheidung abgeschafft wird, wird die Diskriminierung der Frauen – damit sind weiblich sozialisierte Personen gemeint – umso weniger fassbar und seltener thematisiert. Die Care-Arbeit ist unbezahlt, weil sie von Frauen gemacht wird. Frauen werden von Männern nicht nur sexualisiert, sondern erleben sexualisierte Gewalt und Missbrauch, weil sie Frauen sind. Frauen werden diskriminiert und sie erleben Misogynie – aufgrund ihres Geschlechts. Wenn die Geschlechterunterscheidung abgeschafft wird, lösen sich die Probleme nicht in Luft auf. Sie bestehen weiter, diesmal einfach ohne Namen.

Zusätzlich entstehen durch die Abschaffung der Geschlechterunterscheidung wieder die Probleme, welche mit einer Geschlechterunterscheidung gelöst wurden. Geschlechtergetrennte Toiletten wurden beispielsweise errichtet, um einen Safe-Space für Frauen zu kreieren und sie vor sexuellen Angriffen zu schützen. Die Toiletten Unisex zu machen, kann bedeuten, dass Frauen wieder mehr exponiert sind, da Männer in der Zwischenzeit nicht aufgehört haben, Frauen zu belästigen – im Gegenteil, die Zahl der Angriffe auf Frauen ist in den letzten Jahren gestiegen.

Der lange Weg zum Ziel

Das Ziel einer feministischen Gesellschaft wäre, dass die Geschlechter keine Rolle mehr spielen und wir sie abschaffen können, weil sie so irrelevant sind. Jedoch befinden wir uns zurzeit nicht in einer feministischen Gesellschaft. Männer und Frauen sind weiterhin keine gleichberechtigten Wesen. Frauen leiden auf vielen Ebenen noch immer darunter, dass sie Frauen sind. Jetzt so zu tun, als wären wir gleich und einander zu behandeln, als sind wir gleich, verstärkt die Ungleichheit, die zurzeit in der Gesellschaft besteht. Erst wenn alle Geschlechter gleichberechtigt leben können und das Geschlecht keinen Einfluss auf irgendeinen Bereich mehr hat, kann die Geschlechterunterscheidung mit gutem Gewissen abgeschafft werden. Bis dahin bleibt es eine Utopie.

 

Bild: Gemälde von Jean Béraud: «Une soirée». 1878 in Paris.