«Oh mein Gott»: Wie Sagen uns die Welt erklären

Ausrufe des Erstaunens oder der Empörung stellen Strategien der Menschen dar, auf bedrohliche oder mysteriöse Umstände zu reagieren. Auf Unerklärliches reagieren wir aber nicht nur mit spontanen Ausrufen. Wir verarbeiten rätselhafte Ereignisse auch mit Erzählungen. Die Schweiz, insbesondere der Alpenraum, ist reich an mannigfaltigen Sagen. Diese Geschichten weisen einen Bezug zur lokalen Umwelt auf und erzählen von aussergewöhnlichen Vorkommnissen und übernatürlichen Mächten.

Autor:in:
Kathrin Hiltmann
Hinweise:

Die Hand wird vor den Mund geschlagen, die Augen weiten sich, das Einatmen geschieht schnell und ist deutlich hörbar - alles körperliche Reaktionen, die mit Emotionen wie Empörung, Erstaunen, Schock oder Überraschung einhergehen können. Genauso wie die körperliche Ausprägung ebendieser Emotionen, umfassen diese oft auch eine verbale Ebene. Ausrufe, wie «OMG» - oder auf Schweizerdeutsch «Jesses», «Jessesgott», «Ojemine» oder auch «Potz Tuusig» können damit in Verbindung gebracht werden. Auffallend ist bei diesen Ausdrücken die religiöse Komponente. Der Bezug zum Göttlichen. Der Hinweis auf Jesus Christus.

Manchmal ist dieser Bezug zwar nicht mehr sofort erkennbar, aber auch unser «Ojemine» oder «Potz Tuusig» findet sich im Schweizerischen Mundartwörterbuch Idiotikon unter den Begriffen Jesus oder Gott. Das hat damit zu tun, dass die Anrufung des Göttlichen die Quelle unzähliger Interjektionen ist. Eine Gruppe von Wörtern, die eine Empfindung oder Gefühlslage ausdrücken oder kurz: Ausrufe- oder Empfindungswörter.

Das Unverständliche erklärbar machen

Diese Verwendung und Einschreibung in unserem Sprachgebrauch zeigt auf, wie stark der Name Jesus oder das Christentum als Religion im Schweizerischen Volksglauben verankert war. Um zu verstehen, weshalb jedoch genau bei den Emotionen des Erstaunens, des Schocks oder der Überraschung die Verbindung zum Göttlichen hergestellt wurde, müssen wir diese Emotionen genauer in den Fokus rücken.

Es sind oftmals Emotionen, die mit Ungewissheit und Unerklärbarkeit einhergehen. Und hier kommt das Göttliche ins Spiel: Der Glaube stellte für die Menschen seit jeher eine Strategie dar, das Unverständliche erklärbar machen zu wollen. In den Momenten der Überraschung oder des Schocks wird die übernatürliche Macht um Hilfe zur Bewältigung der neuen, unbekannten und meist als bedrohlich empfundenen Situation gebeten.

Diese menschliche Eigenheit, das Unerklärliche begreifen zu wollen, hat zu weiteren interessanten und einfallsreichen sprachlichen Kreationen geführt. Ein Beispiel dafür sind die Sagen, die uns heute schriftlich überliefert vorliegen. Jede Region in der Schweiz hat ihre eigenen Sagen hervorgebracht; die Zentralschweiz besonders viele.

Die Geschichte des «muetigen Mälchers» aus Escholzmatt, die Pilatus-Sage oder die Entstehungsgeschichte der Erbauung der Teufelsbrücke bei Andermatt im Kanton Uri sind nur einige Beispiele aus der «sagenhaften» Zentralschweiz. Generell berichten Sagen von aussergewöhnlichen Vorkommnissen und dem Eingreifen höherer Mächte. Den Anspruch auf Glaubwürdigkeit erhebt die Sage durch meist detaillierte zeitliche und örtliche Angaben.

Auch eine moralische Komponente

Nehmen wir als Beispiel die drei bereits erwähnten Sagen. Sie alle beziehen sich auf reale Orte; in diesem Fall den Pilatus nahe Luzern, eine abgelegene Alp bei Escholzmatt und die Teufelsbrücke über die wilde Reuss in der Schöllenenschlucht bei Andermatt. Letztere sei durch einen Pakt mit dem Teufel entstanden, nachdem alle vorherigen Versuche eines Brückenbaus kläglich gescheitert waren. Nur dank diesem Pakt war die Überquerung der Reuss endlich möglich und damit auch die Erschliessung des Zugangs für Säumer Richtung Süden.

Durch die Sage um die Entstehungsgeschichte der Teufelsbrücke liess sich die Bezwingung der Schlucht verstehen. Nicht nur die Erklärung gewisser Ereignisse an sich, sondern auch die mit den Sagen einhergehende moralische Komponente spielen eine wichtige Rolle. Denn menschliches Fehlverhalten, die Missachtung von Regeln oder unmoralisches Verhalten führen in vielen Sagen zu einer Katastrophe; im Alpenraum beispielsweise zu einem Bergsturz, einer Lawine oder furchtbaren Gewittern.

Sagen sind also viel mehr als lediglich skurrile Geschichten, die sich die Menschen mit ihrer Fantasie ausgedacht haben. Sie besitzen überraschend viele Bezugspunkte zur Realität; wie der Bezug zu unserer Landschaft und Gesellschaft, in der wir leben. Weiter geben sie uns gewisse Verhaltensvorschriften mit auf den Weg, erklären Geschichtliches und lassen sich als Strategien identifizieren, mit denen Menschen versucht haben, ihre eigene Lebenswelt und das darin Unerklärliche zu verstehen. Genauso wie Sagen noch nicht in Vergessenheit geraten sind, begleiten uns auch heute im Alltag noch Ausrufe wie «Oh mein Gott», «Jessesgott» und Co.

Verlosung

Infobox

Wer mehr über die Sagen zum Pilatus, der Teufelsbrücke und dem «muetigen Mälcher» erfahren möchte, besucht in Luzern die Ausstellung «Sagenhafter Alpenraum» des Schweizerischen Nationalmuseums. Die Ausstellung beleuchtet das Thema Sagen aus verschiedenen Blickwinkeln und veranschaulicht diese mit diversen Hörbeispielen aus der ganzen Schweiz. Die Ausstellung in Luzern besteht aus zwei Teilen und ist noch bis zum 14. April 2024 sowohl im Natur-Museum als auch im Historischen Museum zu sehen.