Der Spiegel entstand gut zwei Jahrhunderte vor der ersten Fotografie. Genau wie ersterer in Frankreich. Ein Zufall? Durch die Entwicklung von Guss- und Walzverfahren konnte Flachglas hergestellt werden, mit dem man die Spiegel herstellte. Der Name kommt vom lateinischen Wort speculum. Das ist eine reflektierende Fläche, die ein Abbild erzeugt. Der Spiegel war schon seit jeher ein faszinierendes Objekt. Zu Zeiten Versailles wurden riesige Spiegel extra in Venedig angefertigt, um die Wände des Schlosses verspiegeln zu lassen. Ein nicht ganz kostengünstiges Vorhaben – aber warum auch sparen als Sonnenkönig! Und heute sehen wir auf Ebay Kleinanzeigen für Spiegel um die 5 Franken. Die glanzvollen Zeiten des Spiegels sind vorbei. Und doch nicht ganz.
Die russische Zarrentochter Anastasia Nikolaevna war eine der ersten, die sich 1914 selbst fotografierte (drei Jahre nach der Exekution ihrer Familie). Damit schuf sie eines der frühsten fotografierten Selbstporträts. Gespenstisch, grobkörnig und dennoch mit direktem, ungekünstelten Blick durch den Spiegel. Als würde sie einem Ingmar-Bergman-Film entspringen. Der Spiegel erlaubt ihr, sich selbst zu fotografieren und agiert gleichzeitig als Stilmittel.
Einige Jahrzehnte später folgen die Fotografien der amerikanischen Künstlerin Florence Henri (1893 – 1982), die spielerisch ihre Objekte mit dem Spiegel dekonstruiert, multipliziert, und so ganze Stilleben kreiert.
Auch ausserhalb der Studiofotografie findet man ihn wieder, den Spiegel. Beispielsweise in Fotografien von Lee Friedlander, die einen sehr spontanen, bewegten Charakter aufweisen. So fotografierte er beispielsweise via Seitenspiegel eines Autos ein Pferd und zeitgleich einen Fahrradfahrer. Generell lebt die Streetfotografie von der Zufälligkeit und Banalität des Alltags. Dinge, die scheinbar keine Verbindung zueinander haben, können nebeneinander gestellt eine neue Bedeutung entwickeln. Die Spiegelung verbindet, verwebt.
Ein Spiegel kann uns in fremde Welten eintauchen lassen, Dinge verbiegen, verschmelzen, verzerren, unser Sichtfeld erweitern oder verringern. Er kann mit der eigentlichen Wahrnehmung spielen, eine Kopie der Realität – aber doch etwas anders. Wie in der Bildserie «Dr. Heisenbergs Magic Mirror of Uncertainty» von Duane Michals. Eine Frau schaut mehrmals in einen runden Spiegel. Jeder Schuss zeigt ihren Kopf, aber nie sieht er so wie ihr echtes Gesicht aus, immer anders: verkrümmt, verzogen oder gänzlich unklar.
Um es am eigenen Leib zu testen, gehe man in ein Spiegelkabinett, wie jenes beim Gletschergarten in Luzern. Als Kind habe ich den Ort geliebt, mich aber immer irgendwann darin verloren. So viele Ichs! Ich sehe mich und mich und mich und dann, wenn man zu lange drinnen war, kommt die Frage auf: Wer bin ich eigentlich? Schaut man sich zu lange im Spiegel an, entsteht manchmal dieses Gefühl des Unbehagens. Schier eine kleine Angst vor sich selbst. Oder aber narzisstische Züge quellen aus uns hervor, wie sehr wir uns doch gefallen. Zum Glück können wir im Spiegel nicht versaufen. (Der Narzisst kann sich jetzt dem Spiegel widmen, statt verrenkt den Kopf über ein Gewässer zu halten.)
Die Modefotografie bediente sich ebenso dem Spiegel und dem Konzept des Spiegelgartens. William Klein fotografierte 1963 für die Pariser Vogue das Model in verspiegelten Räumen. Unendlich gespiegelt, multipliziert für den Konsum.
Für viele Jahre war der Spiegel ein Zentrum für die Fotografie. Ohne Spiegel würde uns wohl so einiges entfallen. Der Spiegel wird als Medium, Mittel zum Zweck oder auch einfach als Bauteil, versteckt in einer analogen Kamera, gebraucht.
Er kann die Realität aufdecken oder ebendiese verzerren. Dem Spiegel wird die Macht der absoluten Wahrheit angepriesen – eine Kopie der Welt. Doch er kann uns ebenso verwirren, Realitäten aufdecken oder kreieren von denen wir nichts wussten. Die Spiegelung kann verwirren und aber genau dadurch das Verständnis in der Gesellschaft schärfen, wie schmerzlich lustig verzerrt das Leben sein kann und wie wenig wir über die Realität wissen.