Das Comeback der Hexe: Zwischen Kult und Kommerz

«Show me your witches, and I’ll show you your feelings about women», schreibt die US-Autorin Pam Grossman in ihrem Buch Waking the Witch (2019) – und bringt damit ein unausgesprochenes Unbehagen auf den Punkt. Die Figur der Hexe ist unfassbar und unterschiedlich zu interpretieren.

Die Hexe ist eine Figur, die sich kaum fassen lässt. Mal ist sie Fabelwesen in Grimm’schen Märchen, mal Opfer brutaler Verfolgung, mal Pop-Ikone auf Netflix oder Insta-Hexe, die im Hochformat-Kurzvideo Kräuter mischt und Tarot legt. In ihr spiegelt sich eine Geschichte voller Angst, Kontrolle und Gewalt, und zugleich Narrative von Selbstermächtigung, Rebellion und Widerstand. Ihre Spuren ziehen sich nicht nur durch Literatur und Streaming-Serien, sondern führen auch nach Luzern.

Vom Hexenhammer zum Gewaltprojekt

Um die ambivalente Figur der Hexe zu verstehen, ist ein Blick in ihre Vergangenheit und ihre Verfolgung unumgänglich. Die Hexenverfolgung war kein regionales Phänomen, sondern ein europaweites Gewaltprojekt, das vom 15. bis ins 18. Jahrhundert andauerte. Im 16. und 17. Jahrhundert explodierte die Anzahl der Prozesse schlagartig – befeuert von Schriften wie etwa dem Hexenhammer (Malleus Maleficarum, 1487), der die Hexerei mit Teufelspakt, Verführung, Tierverwandlungen und Verschwörung gegen die christliche Kirche gleichsetzte. In der Logik des Hexenhammers galt das Wissen über Kräuter, die Nähe zur Natur oder ein nichtkonformes ausserhäusliches Leben als gefährlich. Denn es suggerierte Macht, die sich der patriarchalen Kontrolle verweigerte. Als Standardnachschlagewerk bot der Hexenhammer nicht nur eine Liste von Sünden, sondern lieferte auch praktische Anweisungen, wie sich Hexen finden und bestrafen liessen. So war der Hexenhammer ein Katalog von Kontrolltechniken in einer Zeit, in der Religion, Recht und Moral nahtlos ineinandergriffen. Da die Hexerei mit wenigen Ausnahmen dem weiblichen Geschlecht angelastet wurde, muss die Hexenverfolgung als ein institutionell eingesetztes Werkzeug zur systematischen Entmachtung der Frau verstanden werden.

Auch in Luzern wurden Hexenprozesse abgehalten. Die Luzerner Verfahren zählen gar zu den am besten dokumentierten der Schweiz. Allein in der Stadt Luzern kam es zwischen 1551 und 1675 zu etwa 711 öffentlichen Hinrichtungen – gut 300 davon wegen Hexerei. Besonders exemplarisch: 1675 wurde Anna Weibel aus Schongau als Hexe verurteilt und hingerichtet – unter Folter gestand sie gängige Vorwürfe wie Teilnahme am Hexensabbat, Tierverwandlung und Teufelsbündnis. Ihre Geschichte ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Systems, das die Angst vor abweichendem weiblichem Wissen in Strafakten konservierte. Die letzte legale Hexenhinrichtung in Europa fand im Jahr 1782 im Kanton Glarus statt. (rip Anna Göldi)

Reclaiming in der Popkultur

Seither lebt die Hexe als Erzählfigur weiter und wird immer wieder neu in Szene gesetzt. Schon Virginia Woolf greift sie als Motiv auf. In A Room of One’s Own (1929) nutzt sie die Figur der witch als Sinnbild für jene Frauen, deren Spuren ausgelöscht wurden. Dazu zählten begabte Autorinnen, deren Texte nie gedruckt wurden, weil sie zu unbequem, zu frei oder zu laut waren. Mit Woolf wird die Hexe zum Gespenst der verschütteten Möglichkeiten. Es überrascht nicht, dass die Hexe im Zuge feministischer Bewegungen im 20. Jahrhundert Aufwind erfährt. Spätestens seit den frühen 2000er-Jahren wird die Hexe bewusst zurückgeholt: Stichwort «Reclaiming». Damit ist gemeint, dass ein einst negativ behafteter Begriff oder ein Konzept unter einem positiveren Licht wieder neu zur Erscheinung gebracht wird. Die italienische Autorin Silvia Federici hat mit Caliban and the Witch (2004) eine kraftvolle Neuinterpretation dieser Geschichte vorgelegt. Sie erzählt darin bildhaft, wie die Hexenverfolgung nicht bloss ein Resultat von Angst und Aberglauben war, sondern ein Mittel, den Frauen ihr Wissen zu entziehen, ihnen die Macht über ihren Körper zu rauben und sie in die neuzeitliche kapitalistische Ordnung zu zwingen. In Federicis Lesart ist die Hexe nicht einfach Opfer, sondern Symbol einer zu Unrecht verdrängten weiblichen Praxis und Lebensform.

Von hier spannt sich der Bogen bis in die Gegenwartsliteratur. Kristen J. Sollée und Coz Conover schreiben in Witches, Sluts, Feminists (2017) ein popfeministisches Manifest, das Hexerei, «Slutness» und Feminismus als drei Gesichter derselben sex-positiven Subversion deutet. Pam Grossman verbindet in Waking the Witch (2019) persönliche Praxis mit Kulturgeschichte und erklärt, warum Hexenbilder heute so mächtig sind. Die hier kurz vorgestellten Bücher bilden den Kanon des gegenwärtigen Hexen-Diskurses – ein Grimoire des 21. Jahrhunderts – und sind wärmstens zu empfehlen. Die Hexe ist geblieben, aber sie ist nicht mehr nur Projektionsfläche, sondern Subjekt. Dass Hexenbücher gerade jetzt ein Revival erleben, ist kein Zufall. In Zeiten, in denen über Körperpolitik, Care-Arbeit und reproduktive Rechte gestritten wird, wird die Hexe neu verhandelt – diesmal als Komplizin.

Parallel dazu floriert auf TikTok und Instagram «WitchTok»: Tarot, Kristalle, Kräuterrezepte und DIY-Spiritualität, die neben #aesthetic auch ein Gefühl von Selbstermächtigung verspricht. Es ist eine Demokratisierung durch Algorithmen: Jeder Feed kann heute zum Hexenzirkel werden. In den Fernseh-, Kino- und Streaming-Welten hat sich das Bild der Hexe in den letzten Jahrzehnten ebenso gedreht.  Die Hexe ist nicht länger die dämonisierte Randfigur, sondern avanciert zur Hauptrolle und Identifikationsfigur. Vom Scheiterhaufen zur Serie, vom Untergrund zur Insta-Story und von der namenlosen Hexe aus Hänsel und Gretel zu Sabrina Spellman in Chilling Adventures of Sabrina auf Netflix.

Magie im Mainstream

Diese Verschiebung birgt jedoch auch Spannungen. Die Hexe wird durch die Popkultur nicht bloss ästhetisiert, sondern auch entpolitisiert und schliesslich konsumierbar gemacht – eine «Hexe-to-go». Die moderne Hexe pendelt zwischen Empowerment und Lifestyle. Auf der einen Seite stehen ernsthafte Praktiken, in denen Menschen Rituale, Meditation, Kräuterwissen oder Magie nutzen, um Selbstbestimmung zu erfahren. Auf der anderen Seite sitzt «witchness» als Trendprodukt in Onlineshops unter dem Label «Starterpack-Witch-Kits». Die Hexe wird zur begehrenswerten Anti-Heldin stilisiert und ist zugleich Produkt, was ihr eine merkwürdige Schwebeposition verleiht – irgendwo zwischen Widerstand und Warenästhetik. Diese Kommerzialisierung ist Teil einer populären, digitalisierten, feministischen Inszenierung, die Bewusstsein verkauft – ohne unbedingt soziale Transformationskraft mitzuliefern. Und sie blendet vieles aus. Nicht jede Frau oder Person findet sich in der oberflächlichen Welt der Hochglanz-Hexen wieder. Ob sie heute tatsächlich als inklusives Symbol taugt, bleibt offen.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, was von der Hexe überhaupt noch übrigbleibt, wenn sie zur Marke wird. Ist eine Figur, die historisch für Ausschluss und Verfolgung steht, überhaupt zu retten in einer Konsumkultur? Kann ein ehemals subversives Symbol im Mainstream noch etwas anderes sein als Lifestyle? Oder kehrt das Subversive gerade durch seine massenhafte Verbreitung zurück – als unterschwellige Erinnerung? In einer Zeit, in der Spiritualität, Selbstoptimierung und Kapitalismus unauflöslich ineinanderfliessen, bewegt sich auch die Hexe in einem paradoxen Raum.

Das führt uns wiederum nach Luzern, an die Bruchstrasse in die Zwischenwelt. Seit 2001 betreibt Wilhelm Haas die Zwischenwelt – einen Wicca- und Hexenladen, Hotspot für Naturmystik, Kartenlegen und Kräuterkunde. Diese neue Sichtbarkeit führt gewissermassen zurück zum Kernmotiv der OG-Hexe: der Nähe zur Natur als Quelle von Wissen und Ermächtigung. Dies veranschaulicht den Weg von der verfolgten Sündenbockfigur zur offenen, selbstgewählten Lebenspraxis. Relevant ist hier die Unterscheidung: Wicca ist kein Esoterik-Deko-Club, sondern eine eigenständige, neureligiöse Bewegung. Sie entstand im 20. Jahrhundert und verbindet Naturspiritualität mit magischen Ritualen und klaren ethischen Prinzipien, die nicht – oder nur teilweise – mit der popkulturellen Hexe in einen Topf geworfen werden können. Hier geht es um gelebte Gemeinschaft und ein Glaubenssystem – weniger um die dazugehörenden Accessoires. Eine subtile, aber entscheidende Differenz: Während Hexen in den sozialen Medien «witchness» als Ästhetik getragen wird, verorten sich Wicca-Praktizierende in einem spirituellen Kontinuum, das historische Verfolgung ebenso reflektiert wie heutige feministische Kritik.

Vielleicht wird die entscheidende Frage künftig nicht mehr lauten, wer sich Hexe nennt, sondern was mit der Figur getan wird. Welche Geschichten fehlen noch, welche Stimmen wurden trotz aller Reclaiming-Versuche weiterhin nicht gehört? Solche offenen Fragen sind kein Defizit, sondern eine Chance – die Hexe bleibt dynamisch und macht gerade darin ihre Stärke aus.

An diesem Punkt schliesst sich der Kreis mit Pam Grossman. «Show me your witches, and I’ll show you your feelings about women». Ihr Zitat lädt nicht zufällig zur Reflexion ein: Wenn wir unsere Hexen zeigen, was zeigen wir dann über uns? Die Figur der Hexe ist heute nicht mehr nur ein Spiegelbild unserer Ängste, sondern eine bewusst gewählte Gestalt und Praxis. Doch das allein genügt nicht, wenn wir sie hinter einer oberflächlichen Fassade verschwinden lassen. Die Hexe, die wir brauchen, macht Bruchlinien sichtbar: zwischen Kontrolle und Freiheit, Kommerz und Praxis, Erinnerung und Vergessen. 

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