Drama Baby: Songtexte als moderne Märchen

Es war einmal… ein Herz, das in tausend Stücke brach. Oder war es doch «nur» ein Ghosting nach zwei Wochen Tinder-Chat? In Songtexten spielt das keine Rolle. Da wird nicht einfach eine unbeantwortete Nachricht hingenommen – da stirbt gleich die halbe Seele. Eine Märchenstunde in drei Minuten.

Autor:in:
Bezzy Wyss
Hinweise:

Musik tut gut. Sie hilft, Gefühle zu verarbeiten. Wir können wild tanzend unserer Freude Ausdruck verleihen, bei Liebeskummer können wir uns mit ihr in Selbstmitleid suhlen oder bei inneren Dämonen, toxischen Beziehungen oder Einsamkeit fühlen wir uns verstanden, aufgehoben, abgeholt. Dabei spielen die Songtexte natürlich eine grosse Rolle. Songtexte funktionieren dabei eigentlich wie Märchen: Gefühle werden nicht abgebildet, sie werden aufgeblasen. Niemand singt «Ich bin ein bisschen enttäuscht, dass du nicht zurückgeschrieben hast.» Stattdessen heisst es bei Billie Eilish: «If teardrops could be bottled, there’d be swimming pools filled by models». Die kalte Schulter von jemandem wird ins Bild von Schwimmbädern voller Tränen übertragen.

Das soll nicht bedeuten, dass Gefühle nicht auch bei vermeintlich kleineren Enttäuschungen gross sein können. Liebeskummer ist nicht nur gerechtfertigt, wenn man nach einer jahrelangen Beziehung eine Trennung verarbeiten muss. Bei verpassten Chancen kann der Schmerz genauso real sein. Dennoch sind Songtexte wohl hauptsächlich dazu da, aus kleinen Geschichten grosse Dramen zu machen.

Extreme kicken mehr

Und genau da liegt die Magie: Wir identifizieren uns eher mit dem Übertreibungs-Ich als mit dem nüchternen Ich. Psycholog:innen würden sagen: Das Drama erlaubt Katharsis. Wir nehmen die eigenen Gefühle, multiplizieren sie mit zehn, und plötzlich passen sie zu dem Kloss im Hals, der viel zu gross wirkt für die kleine Ursache.  Warum wir das lieben? Weil wir Menschen Drama-Tiere sind. Neurowissenschaftlich betrachtet reagiert unser Gehirn stärker auf Extreme. Ein Lied, das Gefühle nüchtern schildert, würde wie ein Polizeirapport klingen. Aber wenn Taylor Swift singt «We are never ever ever getting back together», dann schwingt die Endgültigkeit eines Shakespeare-Dramas mit. So fühlt es sich eben an, wenn man 19 ist. Und ehrlich gesagt, es fühlt sich auch mit 40 noch so an.

Nehmen wir Adele. Ihre Songs sind Märchen für Erwachsene: Die böse Trennung, die heroische Trauer, die Erlösung durch grosse Worte. Wenn sie singt «Hello from the other side», dann ruft sie nicht an. Sie beschwört Geister. Philipp Poisel ist ebenfalls ein Künstler, der es immer wieder schafft, grosse Emotionen auszulösen. Mit seinen Zeilen «Wie soll ein Mensch das ertragen, dich alle Tage zu sehn, ohne es einmal zu wagen dir in die Augen zu sehn?» spricht er allen aus dem Herzen, die eine Person loslassen müssen. Hier klingt es nach dem Verlust der Liebe seines Lebens. Identifizieren können sich damit aber wohl alle, die schonmal einen Crush in der Oberstufe hatten. Es ist aber genau das, was wir hören wollen: die grosse Geste, das Übermass, das Drama. Da können wir uns sogar mit einem Text wie « Every breath you take, every move you make, I’ll be watching you» von Police identifizieren, obwohl es nicht wirklich nach echter Liebe, sondern vielmehr nach Stalking klingt.

Und wenn es nicht so wäre?

Würden wir Songtexte, die Gefühle ehrlicher beschreiben, ebenso fühlen? Vielleicht. Aber Realismus ist Alltag. Und davon haben wir schon genug. Märchenstunde bedeutet ja nicht, dass alles gelogen ist. Die Wahrheit wird einfach in ein zugänglicheres Gewand gekleidet. Aus Trennung wird Untergang, aus Crush wird Ewigkeit, aus einer Party wird eine Apokalypse. «Tonight we are young, so let’s set the world on fire».

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