«Es gibt nur wenige Berufe, in denen man dem Leben so nahe ist»

Hebammen sind Dirigentinnen, Medizinerinnen und Mitschöpferinnen zugleich. Sie spielen eine wichtige Rolle zum Beginn des Zyklus eines Lebens. Doch wie ist es, sein erstes Kind auf die Welt zu holen? Und wie werden Hebammen darauf vorbereitet, diesen heiklen Beruf ausüben zu können? Wir haben bei zwei Geburtshelferinnen nachgefragt.

Autor:in:
Jan Rucki und Layla Hollenstein

Hebammen sind die ersten Menschen, die neues Leben in den Händen halten. Sie sind die Personen, die die Erfahrung besitzen, Geburten möglichst komplikationsfrei verlaufen zu lassen. Ein Job überdurchschnittlichen moralischen Werts. Mit langjähriger Erfahrung kommt, wie in vielen Jobs dieser Welt, Gelassenheit und Professionalität in den Alltag der Hebammen. Aber wie ist es, zum ersten Mal einem Menschen zum ersten selbstständigen Atemzug verhelfen zu können und somit jeden Tag mit dem wohl erstaunlichsten Moment im menschlichen Zyklus zu sein?

Sofia Silvestri ist 22 Jahre alt. An der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften studiert sie den Beruf der Hebamme. Im Gespräch mit frachtwerk erzählt sie  von ihrer Ausbildung zur Geburtshelferin. Zum Zeitpunkt des Interviews hat Sofia uns erklärt, dass sie erst gerade vor einer Woche ihre erste selbstständige Geburt als Hebamme durchgeführt hatte.

Als «einen Moment, in dem ich die Zeit komplett vergessen habe», beschreibt sie den Prozess ihrer eigenen selbstständigen Geburtshilfe. «Alles war super emotional und ich war nach vollendeter Geburt so unglaublich stolz auf mich», meint Sofia. Natürlich sei sie im Hintergrund gecoacht worden von einer erfahrenen Hebamme, die sich bei grösseren Zwischenfällen eingeschaltet hätte. Es hat aber alles geklappt, das Kind ist gesund und ohne namhafte Komplikationen zur Welt gekommen.

Nahe am Leben arbeiten

In der Schweiz kommen die allermeisten Neugeborenen in Spitälern unter medizinischer Begleitung zur Welt. Gemäss dem Schweizerischen Hebammenverband und dem Bundesamt für Statistik wurden im Jahr 2022 82'371 Babys lebendig zur Welt gebracht. Bloss 1076 Kinder davon wurden nicht in einem Spital oder Geburtshaus geboren.

Doch egal ob im Spital, in einem Geburtshaus, oder zu Hause: In den allermeisten Fällen ist eine Hebamme mit dabei, wenn ein neues Leben beginnt. So ist die einmalige Arbeit, die eine Hebamme verrichtet, in der Schweiz – und auch an vielen anderen Orten der Welt – unabdingbar. Nicht auch zuletzt deswegen ist das Hebammenwesen am 6. Dezember vergangenen Jahres in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen worden, die die Organisation UNESCO seit 20 Jahren führt.

Auch für die Hebammen selbst löst ihr eigener Job nicht nur Extremsituationen, sondern auch markante Veränderungen in der Lebenseinstellung aus. Bereits nach ihren ersten Geburten, die Sofia miterlebt hat, ist mehr Gelassenheit in ihr Leben getreten: «Ich sehe nicht mehr alles als ein Problem an. Ich merke, wie ich viel lösungsorientierter geworden bin. So nahe am Leben zu arbeiten macht alles andere irgendwie weniger wichtig», führt sie aus. Dass sie diese Erfahrung in einer Lebensphase machen darf, in der sie sich selbst noch sehr stark verändert, ist ihrer Meinung nach sehr wertvoll.

Im Verlauf des Gesprächs mit Sofia fällt immer wieder das Wort «Vertrauen». Für sie als angehende Hebamme spielt das Wort eine grosse Rolle, da sie sich auf die Ratschläge erfahrener Hebammen verlassen können muss. Darüber hinaus ist aber auch einer der wichtigsten Faktoren, sich selbst vertrauen zu lernen, wie sie behauptet: «Bei meiner ersten Geburt war eine Hebamme mit dabei, die mich begleitete, mich aber alles selbst machen liess. Dieses Vertrauen hat mir sehr geholfen und auch das Vertrauen meinerseits in meine eigenen Fähigkeiten und mein Urteilsvermögen vehement gestärkt.»

Ein Spektrum an Emotionen

Und nicht nur die Selbständigkeitsverfügung der Chefin ist wichtig. Viel mehr umtreibt Sofia die Reaktionen der Gebärenden selbst: «Das Vertrauen der Frauen gegenüber uns beeindruckt mich immer wieder. Auch die Reaktion der Väter ist spannend. Manche fangen an zu lachen, andere weinen und manchmal wird dem einen oder anderen auch übel und man muss sich fast mehr um den Vater als um die Mutter kümmern», meint sie schmunzelnd.

Sofia Silvestri hat vor Kurzem zum ersten Mal als Hebamme eigenständig ein Kind auf die Welt begleitet. (Bild:z.V.g.)

Glückseligkeit auf der einen, Schmerz und schwierige Momente auf der anderen Seite – eine Geburt kann viele Phasen durchlaufen und Gesichter haben. Wie werden angehende Hebammen auf schwierige, prägende Momente bei einer Geburt vorbereitet?

Bernadette Duss ist erfahrene Hebamme in Luzern und hat bereits viele junge Hebammen angelernt. Mit ihrer grossen Erfahrung ist Ruhe in ihre Routine gekehrt – und trotzdem ist jede Geburt aufs Neue etwas ganz Besonderes: «Jede Geburt ist ein kleines Wunder – auch heute noch», erzählt sie im Gespräch mit frachtwerk. «Ich erinnere mich auch noch an meine erste Geburtshilfe. Da hatte ich Tränen in den Augen, den Kopf eines Neugeborenen als erste Person berühren zu dürfen ist einfach ein unbeschreibliches Privileg.»

Auf alles vorbereitet sein

14 Jahre lang hat Bernadette angehende Hebammen in ihren neuen Beruf begleitet und so manche Erfahrung miterlebt und gecoacht. «Eine gute Begleitung junger, frischer Hebammen ist so wichtig. Der Beruf ist herausfordernd und verlangt ein grosses Selbstvertrauen. Schwierige Situationen kann man mit jedem Mal, bei dem man damit konfrontiert wird, besser bewältigen. Weil sie aber unweigerlich vorkommen im Laufe eines Hebammenlebens, ist es wichtig, mit jungen Hebammen jede Geburt umfangreich nachzubesprechen, um Unsicherheiten, Belastungen und offene Fragen loszuwerden.»

Sofia fügt an: «Ich bin erst im zweiten von drei Praktika innerhalb des Studiums. Hier versuchen die anderen Hebammen uns möglichst mit den problemloseren Geburten zu konfrontieren. Beim ersten Mal ist das allein schon sehr emotional. Aber natürlich kann man nicht ausschliessen, dass man auch weniger schöne Momente miterlebt. Nur schon beim Schichtrapport hört man einiges. Das theoretische Vorwissen hilft aber damit umzugehen, da man die Ursachen für allfällige unschöne Situationen kennt.»

Veränderung ist angebracht

Im Jahr 2022 wurden gemäss dem Schweizerischen Hebammenverband Schweizweit 221 Studienplätze für den Hebammenberuf belegt. 90 davon gehen in Zürich zur Schule, wo auch Sofia ihr Studium absolvieren wird. Gemäss Bernadette sollten es mehr sein: «221 ausgebildete Hebammen sind viel zu wenige. Viele gehen erstmal in die Spitäler, doch die meisten werden da nicht lange bleiben und machen sich selbstständig. Auch bei Hebammen gibt es einen Fachkräftemangel, der sich auf die Arbeitsbelastung jeder einzelnen Kraft niederschlägt. Die Arbeitsbedingungen müssen sich auch in unserem Berufsfeld gravierend verändern. Und die Neuanwärterinnen müssen gut auf ihre Zukunft vorbereitet werden. Dazu möchte auch ich weiterhin meinen Beitrag leisten.»

Sofia ist eine jener Neuanwärterinnen. Nach ihrer anspruchsvollen Ausbildung zur Hebamme arbeitet sie in einem unabdingbaren Berufsfeld, das sich um den Nachwuchs unserer Bevölkerung kümmert. Sofia wird sich um einen der heikelsten Momente im Zyklus eines Menschenlebens kümmern und viel Schweres und Wundervolles als ihre Berufung benennen dürfen – hoffentlich.

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