Heute erinnern wir uns meist an die Grimmschen Fassungen: Schneewittchen, das schwach und schön ist, oder Dornröschen, die hundert Jahre lang schläft, bis der Prinz sie erlöst. Märchen scheinen unschuldig, fast kindlich. Aber sie sind tief geprägt von den gesellschaftlichen Strukturen ihrer Zeit. Gerade die Darstellung von Frauenfiguren ist ein Spiegel des damaligen Weltbildes, welches bis heute nachwirkt.
Die weiblichen Figuren in den klassischen Märchen lassen sich meist in zwei Kategorien einordnen: Prinzessin oder Hexe.
Die Prinzessin ist schön, bescheiden und demütig. Sie wartet. Sie erträgt. Und vor allem: Sie handelt nicht. Ihr Wert liegt darin, gerettet zu werden. Ohne den Prinzen, der sie erlöst, gäbe es keine Geschichte: Dornröschen würde ewig schlafen, Schneewittchen für immer im gläsernen Sarg liegen. Ihre Funktion ist es, als Preis für die Heldentat des Mannes zu dienen. Die Prinzessin ist nicht Subjekt, sondern Objekt der Erzählung. Sie ist das Mittel zum Zweck, damit der Prinz glänzen kann.
Die Hexe ist das Gegenbild: hässlich, alt, böse. Sie verführt, verzaubert oder bedroht. Auch sie existiert nicht um ihrer selbst willen, sondern um den Helden herauszufordern. Der Prinz kann nur als Retter strahlen, wenn er gegen das „Böse Weibliche“ kämpft. Die Hexe ist der dunkle Spiegel der passiven Prinzessin. Zusammen zeichnen sie ein Frauenbild, das keine Grautöne kennt: entweder schwach und schön oder mächtig und gefährlich.
Während die Frauen auf diese Rollen reduziert werden, treten die Männer in den Märchen als Helden auf. Sie kämpfen, retten, herrschen, sind dem Volk nah. Sie erobern die Sympathien der Lesenden und prägen damit bis heute die Vorstellung davon, wie ein „richtiger Mann“ zu sein hat.
Doch das war nicht immer so. In sehr alten Märchen und Mythen finden sich Frauenfiguren, die Herrscherinnen, Göttinnen oder Kämpferinnen waren. Sie waren klug, mutig, gestaltend. Mit der Verbreitung des Christentums wandelte sich dieses Bild: Die Göttin weicht der Hexe, weibliche Macht wird dämonisiert. Als die Gebrüder Grimm im 19. Jahrhundert ihre Märchen sammelten, richteten sie die Geschichten nach den Vorstellungen ihrer Zeit aus. So entstand ein Frauenbild, das bis heute in unseren Köpfen weiterlebt.
Der Kulturtheoretiker Stuart Hall beschreibt in seiner Representation Theory, dass Darstellungen in Sprache, Bildern oder Geschichten nicht neutral sind, sondern Bedeutungen erzeugen. Repräsentation formt damit unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit, anstatt sie nur abzubilden. Wer über diese Darstellungen Kontrolle hat – etwa Kirche, Staat oder Kulturproduzenten wie die Gebrüder Grimm – bestimmt auch, welche Frauen- und Männerbilder in Umlauf kommen. Märchen spiegeln daher nicht nur eine Zeit, sondern sie produzieren aktiv Vorstellungen von Weiblichkeit, die bis heute nachwirken.
Viele von uns hören Märchen schon als Kinder, noch bevor wir überhaupt kritisch hinterfragen können, was wir da hören. Sie formen frühe Bilder von Gut und Böse, Männlich und Weiblich. Und selbst wenn wir längst wissen, dass Dornröschen keine realistische Figur ist, wirken die Muster unterschwellig weiter: Frauen sollen schön, geduldig, zurückhaltend sein oder sie werden als „Hexen“ abgestempelt, sobald sie zu viel Macht beanspruchen.
Zum Glück gibt es auch Gegenbeispiele. Figuren wie Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf haben gezeigt, dass Mädchen stark, unabhängig und frei sein können. Moderne Märchen, Neuinterpretationen und feministische Kinderliteratur brechen alte Schemata auf und eröffnen neue Perspektiven.
Doch es wäre falsch, Märchen pauschal zu verwerfen. Sie sind Leidensgeschichten mit glücklichem Ende. Genau das schenkt Hoffnung. Wichtig ist nur, dass wir sie bewusst lesen: nicht als Vorbilder, sondern als Spiegel vergangener Zeiten, aus denen wir lernen können.
Es bleibt am Ende die Erkenntnis: Es war einmal… und ist noch immer.