Fällst du noch, oder springst du schon?

Eine 18-jährige Gymnasiastin entflieht zusammen mit einer Freundin der Ödnis ihres Kleinstadtlebens. Gemeinsam verlieren sie sich in Abgründen, um sich irgendwo zwischen Drogen, elektronischer Musik, den ersten sexuellen Erfahrungen und einer ambivalenten Freundschaft wiederzufinden. Dabei loten sie Grenzen aus, bis das unaufhaltbare Unheil seinen Lauf nimmt, und alles aus den Fugen gerät.

Autor:in:
Jonas Rippstein
Titelbild:
Jonas Rippstein

Die Tage kreisen. Sie kreisen ununterbrochen vor sich her und verlaufen sich zwischen Schulbänken, Tanzflächen und einem Zuhause, von dem man beginnt, sich loszulösen. Als Jugendliche:r probiert man sich aus, läuft langen Strassen entlang, die weit weg, und irgendwann wieder zurückführen. Gleichzeitig versucht man, seinen Platz in der Welt zu finden. Nur ist das Platzfinden im ständigen Umherkreisen gar nicht so einfach und das damit verbundene Erwachsenwerden ebenso wenig.

Dieses Umherkreisen der Teenie-Jahre fängt die Schweizer Autorin Saskia Winkelmann in ihrem 2023 erschienenen Debütroman «Höhenangst» eindrucksstark ein. In der tagebuchartigen Erzählung schildert eine namenlose, 18-jährige Protagonistin trostlose Tage in einer Schweizer Kleinstadt, die sich endlos zu drehen scheinen. Da gibt es nur ihre Wüstenmäuse, die vor kurzem gestorben sind, die Mutter, die immer zu Hause sitzt und mit ihren eigenen Monstern zu kämpfen hat, und den Schulabschluss, nach dem sie nicht weiss, wohin sie der Weg führen wird. Ihr Alltag dreht und dreht sich, bis ein Mensch den Zyklus durchbricht: Jo.  

Vom Rausch zur Ekstase

Mit Jo verliert sie sich. Sie machen Bekanntschaft in der Schule und lernen sich daraufhin hundert Mal von neuem kennen. Sie erleben wilde Nächte in illegalen Kellerclubs oder verbringen Tage allein in einer einsamen Jagdhütte. Sie verlieren sich zwischen elektronischer Musik, Drogen, und dem Unnennbaren, das zwischen ihnen entsteht. Jo ist für die Protagonistin ein Rausch, der ab der ersten Sekunde einsetzt. Mit ihr möchte sie verschmelzen, oder wie sie es ausdrückt: «Deine Pupillen sind so gross und schwarz, dass ich hineinsteigen möchte».

Jo entwickelt sich für die Protagonistin vom anfänglichen Rausch zur hedonistischen Ekstase. Sie entfliehen gemeinsam ihrer kleinen Welt, dem Zyklus, der immer entlang derselben Bahnen verläuft: Sie ist immer seltener bei der Mutter zu Hause, die Schule schwänzt sie und in Jo verliebt sie sich allmählich. Doch ab einem gewissen Punkt beginnen die Beiden zu stolpern. Die drogendurchzechten Nächte hinterlassen ihre Spuren. Die körperlichen Grenzen verschwimmen, und die Protagonistin gerät vermehrt in Panik. Jo entwickelt sich immer mehr zur Gefahr und zeigt sich als stark ambivalente Figur: Genauso hoch wie sie aufsteigt, fällt sie auch wieder hinunter und reisst ihre neugewonnene Freundin mit sich in die Tiefe. Bis zur unvermeidlichen Eskalation

«Es gibt zwei Arten von Höhenangst. Eine ist die Angst vor dem Fallen, die andere jene vor dem Springen», erkennt die Protagonistin. Fallen und Springen liegen in Winkelmanns Roman so nahe beieinander, wie die dargestellte pure Lebensfreude und das entgegengestellte nihilistische Dahinsiechen der trostlosen Tage. Ob die Protagonistin mit Jo fällt oder springt, lässt sich nicht sagen. Vielleicht geht es vordergründig gar nicht um das, sondern darum, was die Fallhöhe mit ihnen macht. Die Höhen sind immer gleichzeitig die Tiefen, je nachdem wie man sie betrachtet.  

Ein Mosaik der Selbstfindung

Schräg und sinnlich zugleich ist der Debütroman von Saskia Winkelmann. Die Autorin führt ihre Leser:innen mit einer einfachen, aber pointiert gefühlsvollen und bildlichen Sprache durch die schiefen Umwege der zwei jungen Frauen. Dabei beschreibt die Autorin stroboskopartige Eindrücke eines grenzenlosen Lebensgefühls am Rande des Falls - ohne dass je ein Wort zu viel oder zu wenig dastünde. Zuletzt funktioniert der Roman nicht nur sprachlich, sondern auch strukturell wie eine Sammlung von Momentaufnahmen: Er kreiert in seinen Bildabfolgen eine hypnotisierende Spannung aus unberechenbaren Zeitsprüngen, wobei immer kleinere und grössere Lücken offenbleiben, die die Leser:innen selbst füllen müssen.

Höhenangst ist eine Coming-Of-Age-Geschichte der Gegensätze: Leere trifft auf Ekstase, Lebensmüdigkeit auf Lebenshunger, Sehnsucht auf Erfüllung. Inmitten dieser Gratwanderung steht die Protagonistin, die sich nicht scheut, von ganz oben in ihre tiefsten Abgründe hineinzuspringen. Sie findet den Mut, sich zu entdecken.

Höhenangst ist lesenswert, gerade weil jede:r diese Sinnsuche der jugendlichen Jahre einmal durchlebt. Jede:r versucht sich zu finden. Ob man das jemals schaffen wird, sei dahingestellt. Was es fürs Finden aber definitiv braucht ist der Mut, sich der Höhenangst ein für alle Mal zu stellen.

Verlosung

Infobox

Höhenangst - Roman von Saskia Winkelmann

Verlag: Brotsuppe

Zum Buch

ISBN 978-3-03867-080-3