
Wer vom Garten aus über die Klostermauern schaut, kann die Dachspitzen des Wesemlin erkennen. Seit 1584 betreibt der Kapuzinerorden hier ein Kloster, mittlerweile ist um das Gelände ein gepflegtes Wohnquartier gewachsen. Doch innerhalb der Klostermauern scheint die Stadt meilenweit entfernt.
Bruder Josef Regli begrüsst mich herzlich, als ich an einem kalten Herbstmorgen das Kloster besuche, um über die Beichte zu sprechen. Er trägt den vollen Habit der Kapuziner: eine schlichte braune Robe mit weisser Kordel um den Bauch. Wir setzten uns aber nicht auf die Holzbänke der Kapelle, sondern in ein einfach eingerichtetes Sitzungszimmer. Der Beichtstuhl, diese verheissungsvolle Kabine am Rand des Kirchenschiffs, ist schon länger nicht mehr in Gebrauch. «Seit Corona», meint Josef Regli. Während der Pandemie wurde die Beichte in das Sitzungszimmer verlegt, in dem wir nun sitzen. «Menschen fühlen sich wohl hier.»
Zusammen an einem Tisch zu sitzen, würde die Gespräche lockerer machen, auch weil der Raum weniger einschüchtert als eine enge, stickige Box innerhalb einer Kirche. Und es muss nicht geflüstert werden. Denn hölzerne Beichtstühle sind ringhörig. Beichtende mussten flüstern, so tönen auch kleine Sünden wie Schwerverbrechen.
Darum geht es doch – die Befreiung von Sünden. Drei Rosenkränze beten und das Gewissen ist rein. So zumindest stelle ich mir die Beichte vor. Die iroschottischen Mönche, die die Beichte in Europa verbreiteten, gingen tatsächlich so vor. In ihren Bussbüchern führten sie Sünden auf, samt vorgesehener Strafe. «In der Praxis ist das nicht so», erklärt Bruder Josef Regli, «als Ziel haben wir den Dialog.»

Am Wochenende können das zwischen sechs und zehn Menschen sein, weniger an Werktagen. «Den durchschnittlichen Beichter gibt es nicht», so Josef Regli, auch altersmässig nicht. Aus der ganzen Region kommen Menschen ins Luzerner Kapuzinerkloster. Weil sie hier niemand erkennt. «Es ist natürlich eine Sache des Vertrauens», erzählt Bruder Josef Regli dazu, «den lokalen Pfarrer sieht man vielleicht in der Schlange beim Metzger.» Das könne unangenehme Situationen schaffen. Manche kommen sogar regelmässig. Von seinen Stammgästen erzählt Bruder Josef Regli: «Sie sagen oft: Ich muss ein bisschen abstauben.» Andere kommen nur ein einmal vorbei, wenn ihnen etwas auf der Seele liegt oder sie etwas bereuen.
Er hört also viel aus dem Leben der Menschen. Ob er manchmal nicht urteilt? Immerhin vertrauen Menschen ihm ihr Innerstes an. «Es ist natürlich eine Frage des Vertrauens», kommt die Antwort. Aber nicht der Wertung, die Bussbücher wären ein Ding der Vergangenheit, denn «im Zentrum steht die Liebe». Gott habe Liebe für alle, sie müsse nur angenommen werden.
Mir kommen Zweifel, denn in meinem Alltag nehme ich Gott alles andere als liebevoll wahr. In der MAGA-Bewegung etwa, deren Anhänger*innen sich auf einen hasserfüllten und rachsüchtigen Gott einschwören. Wie soll ich die Liebe dieses Gottes annehmen, ihm meine Fehler anvertrauen?
Von dem will Bruder Josef Regli nichts wissen: «Hass entspricht nicht dem Evangelium nach Jesus Christus.» Während er spricht, schlägt Bruder Josef Regli energisch auf den Tisch. Seine weichen, überlegten Worte, werden dadurch eindringlich. Ich kann verstehen, wieso Menschen dem Mönch ihre Geheimnisse anvertrauen wollen.
An seinem Tisch müssen sich Menschen auch nicht rechtfertigen. Weder vor dem Mönch noch vor seinem Gott. Gegen Ende des Gespräches kommen wir auf Queerness zu sprechen. Denn schon seit den 1960er Jahren würde er mit queeren Menschen sprechen, etwa wenn es darum geht, sich zu outen oder eine gleichgeschlechtliche Beziehung zu führen. «Es ist ein grosser Schritt», sagt er dazu. Schuldbekenntnisse für die Sexualität wolle er nicht hören. Menschen hätten eigene Geschichten, die sie ausmachen, die ihre Gefühle und Handlungen prägen. Wer mit ihm in diesem schlichten Zimmer sitzt und aus dem Innersten erzählt, soll wissen: «Ich werde trotzdem geliebt.»