Die Reiseleiterin im Märchenland

Seit 40 Jahren steht Jolanda Steiner als Märchenerzählerin auf der Bühne. Die gebürtige Krienserin hat mehr über Märchen vergessen, als die meisten je wussten.

Autor:in:
Noah Sigrist
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Noah Sigrist
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«Abergläubisch bin ich nicht», meint Jolanda Steiner. Ein Erlebnis aus ihrer Kindheit scheint dann doch mehr als Zufall zu sein. Als Kind fährt sie mit ihrer Familie auf einen Campingplatz in den Süden der Schweiz. Dort kommt ein Mann auf sie zu, der gerade auf Abreise ist. Er arbeite für einen Verlag schenkt dem Mädchen zwei Bücher, die könne sie sicher noch brauchen. In den Büchern sind Märchen auf Schweizerdeutsch, damals eine Neuheit. Aus den zwei Bücher ist eine Sammlung vom mehr als 4000 Stück geworden – und aus Jolanda Steiner die vermutlich berühmteste lebende Märchenerzählerin der Schweiz.

Jolanda Steiner erzählt diese Geschichte gegen Ende eines Gesprächs im Bourbaki. Es ist zu heiss für Kaffee, also trinken wir Wasser auf Eis, während wir auf 40 Jahre Karriere blicken.

Ein Leben voller Märchen

Als Mädchen ist sie die Erzählerin in Quartier, die die Nachbarskinder unterhält. Die Arbeit mit Kindern begeistert sie scheinbar, denn sie wird Kindergärtnerin in ihrem Heimatort Kriens. Der Job ist die perfekte Vorbereitung auf ihren späteren Lebensinhalt, sie erzählt Geschichten und hält Kinder bei der Stange. Der Wechsel zur Performerin kommt dann eigentlich per Zufall.

Im Herbst 1984 meldet sich Jolanda Steiner bei einem befreundeten Journalisten, der bei Radio Pilatus arbeitet. Zu der Zeit läuft auf dem Sender jeden Abend ein «Gschichtli» auf Mundart, wobei die erzählerische Leistung für Jolanda Steiner viel zu wünschen übriglässt. Deshalb bietet sie an, den Moderatorinnen und Moderatoren Tipps zu geben. Als sie im Studio ankommt, steht sie selbst kurzerhand am Mikrofon. Noch am selben Tag läuft das erste Gschichtli moderiert von Jolanda Steiner im Radio.

1988, noch während der Zeit bei Radio Pilatus, kommt Jolanda Steiner zu EMI-Records. Es erscheint ihre erste Platte, «Der Weihnachtsnarr». Beim Label ist zu dieser Zeit auch Trudi Gerster, eine Lichtfigur der Schweizer Kulturgeschichte. Schon damals galt Gerster als eine lebende Ikone. Steiner soll beim Label als Nachfolge auf die Basler Sprecherin dienen. «Am Anfang war sie sicher ein Vorbild» meint Steiner im Rückblick, «später haben wir uns dann in andere Richtungen entwickelt, künstlerisch meine ich».

Für Jolanda Steiner beginnt eine zweite Karriere als Märchenerzählerin. Mehr als 20 Jahre ist sie bei diversen Radios als Erzählerin. Es folgt auch der Sprung ins Fernsehen, zu Tele 1. Dort produziert sie und ihr Mann zu zweit fünf Sendungen pro Woche. Ihre eigentliche Passion scheint aber die Bühne zu sein.

Die ewige Tournee

Auch die kampferfahrenste Rock-Band würde an Jolanda Steiners Tourdaten zerbrechen. Sie stellt am Gespräch eine beeindruckende Rechnung auf: während 40 Jahren steht sie an mehr als 50 Auftritten auf der Bühne, manchmal werden es auch 80. Vorsichtig geschätzt kommt sie so auf 2000 Events. Dabei sind Lesungen im kleinen Rahmen und Grossevents mit Orchester. Wer plant das alles?

Auf die Frage, wer sie managt, muss Jolanda Steiner grinsen. Denn sie produziert sich selbst. Für eine Weile hatte sie zwar ein Management, aber wie sie sagt: «Es kommt immer etwas in den Weg». Von Kriens aus befährt sie die Schweiz, im Kofferraum Technik, Skript und Requisiten.

Mehr als eine Erzählerin

Sie ist ihre eigene Managerin, bei Bedarf Sound-Tech oder Beleuchterin. Jolanda Steiner ist in erster Linie aber auch Autorin. Jedes Märchen, dass sie aufführt, wird von ihr selbst aufbereitet. Etwa 200 Evergreens habe sie jederzeit einsatzbereit. Doch sie ist ständig auf der Suche: «Manchmal blättere ich durch, bis mich eine Geschichte anspringt». Je nach Ort, den sie bespielt, muss ein anderes Skript geschrieben werden. Wichtig ist laut Jolanda Steiner «Eine einfache, gute Struktur» bei der «man als Erzählerin Bilder machen kann». Gegen Visuelle Hilfen während der Performance wehrte sie sich lange – die Kinder müssen sich Bilder selbst ausdenken. Mit der Zeit kamen aber visuelle Elemente dazu, auch um mit der Zeit zu gehen. Bei neueren Auftritten ist ab und zu auch KI im Einsatz, die Bilder zu den Geschichten von ihr kreiert.

Die Märchen sind zeitlos, die Sprache nicht

In den 40 Jahren, die sie auf der Bühne steht, hat sich die Welt (und die Sprache) verändert. Gewisse Wörter kennen Kinder schlicht nicht mehr: «Ab und zu wissen Kinder nicht, was ein Spinnrad ist». Dort hilft sie jeweils mit Requisiten nach. Andere Worte will sie selbst nicht mehr verwenden. Etwa Gewehr des Jägers soll nicht mehr auftauchen. Kinder würden schon früh genug Waffen im Alltag sehen. Grundlegend verändert werden die Märchen aber nicht. Es gehe darum Inhalte zu entschärfen, nicht zu verharmlosen.

«Schneewittchen erzähle ich nicht mehr gerne», sagt Jolanda Steiner mit Blick auf die Rolle von Frauen in der Märchenwelt. Viele klassische Märchen geben Frauen eine passive Rolle. In ihren Versionen sind Details oft abgeändert, um dem jungen Publikum andere Geschlechterrollen zu zeigen. «Dann fragt die Prinzessin den Prinzen, ob er sie heiraten will» erklärt Jolanda Steiner.

Die Märchen bleiben im Büro

Privat bevorzugt Jolanda Steiner Literatur aus der echten Welt. Philosophische oder Soziologische Bücher gehören zur Lektüre, auch viele Biografien. Wer ihr gegenübersitzt, merkt wie aufmerksam sie ist. Die Erzählerin beobachtet ihre Umwelt, interessiert sich für Menschen und Geschichten.

Vielleicht wäre sie auch Reiseleiterin geworden, in einer anderen Welt, merkt Jolanda Steiner im Gespräch an. Sie schildert die Erinnerung an einer Flusskreuzfahrt und wie sie die vorbeiziehende Europäische Pampa beschrieb. Sogar eine magiebefreite Anekdote wird bei Jolanda Steiner zur Erzählung. Ihre Worte haben eine sanfte Dringlichkeit, die dann eben doch eine Spur Magie in den Alltag bringen.

Im übertragenen Sinne ist sie doch noch Reiseleiterin geworden. Jede Lesung beginnt sie mit einer Reise ins Märchenland. Mit dem Zug, Schiff oder Heissluftballon nimmt sie ihr Publikum mit in eine andere Welt. Improvisation gehört bei ihr dazu. Sie muss, in ihren Worten, «Märchen innwendig, nicht auswendig lernen».

Zwischen Ruhm, Ehre und Zukunft

Von der Migros wird sie 2014 zur «Märchenkönigin» gekrönt. Es eine von vielen Auszeichnungen, vor einigen Monaten kam der Kulturpreis ihrer Heimatstadt Kriens dazu. Sie sei dankbar für Preise und fühle sich natürlich geehrt. Doch die Preise würden nicht nur an sie gehen, sondern auch an ihre Freundinnen und Freunde, Familie und alle anderen, die sie in ihrer Karriere gefördert haben. Mit nüchternem Ausdruck fügt sie an: «Die Kinder interessiert das nicht».

In den letzten Monaten hat Jolanda Steiner an Engagements reduziert. Doch der Winter kommt näher, die Hochsaison für Märchen. Ob sie über den Ruhestand nachdenke? «Solange ich angefragt werde und gesund bin, werde ich auftreten». Aufhören will sie erst, wenn sie ihren eigenen Standards nicht mehr gerecht werden kann. Trotzdem lehnt sie mittlerweile Anfragen ab, etwa in Shoppingcentren. Zu laut, zu voll. Ihre liebsten Projekte sind mittlerweile im klassischen Bereich. Zusammen mit Orchester bringt sie immer wieder Opern auf die Bühne, indem sie das Libretto der Oper zum Märchentext macht.

Es soll auch Platz geben für Jüngere Menschen und Formate, meint sie. Um Jolanda Steiner selbst ging es ihr nie: «Das Märchen ist der Star».

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