
Tagebuch schreibe ich, seit ich einige Buchstaben kenne. Mein erstes Tagebuch enthält noch kein J, V oder Z – dafür aber eine abstrakte Beschreibung meines Lebens aus der Sicht eines Teddybären. In meinem zweiten Tagebuch schrieb ich – inspiriert von übertriebenen Teenie-Büchern – über Freundschaften, Streit und das Verliebtsein. Ich dramatisierte mit erfundenen Erlebnissen und hoffte, mich eines Tages wirklich an sie erinnern zu können. Fünfzehn Jahre alt und ein wenig verloren, kaufte ich mir schliesslich ein kleines schwarzes Büchlein, um Momente festzuhalten, die etwas in mir auslösten.
Das Tagebuchschreiben und -lesen lässt mich meine Gedanken besser verstehen, ich fühle mich auf eine spezielle Weise mit mir selbst verbunden. Auf meiner zweimonatigen Reise durch Frankreich und Irland trug ich nicht nur ein neues, sondern auch mein altes, bereits vollgeschriebenes Büchlein im Rucksack. Rückblickend keine kluge Entscheidung, doch seine Begleitung gab mir ein Gefühl von Sicherheit – die Gewissheit, dass ich mich, falls ich einen Moment vergessen sollte, wer ich bin und was mich ausmacht, zwischen meinen eigenen Zeilen wiederfinden könnte.
Als mir mein Rucksack gestohlen wurde, fühlte es sich an, als sei ein Teil von mir selbst verloren gegangen. Mir wurde bewusst, welch grossen Wert ich meinem Tagebuch zugesprochen hatte und ich begann, mich mit anderen Tagebuchschreibenden auszutauschen.

Es war abends nach einem Schultag, als Peter mit dem Tagebuchschreiben begann. Allerdings nicht als Schüler, sondern als Klassenlehrer. Über mehrere Jahre hinweg reflektierte er die Ereignisse des Tages und machte sich Gedanken zu seinen Schüler:innen. «Nach meiner Pensionierung habe ich erst einmal mit dem Tagebuchschreiben aufgehört», erzählt der inzwischen 70-Jährige. Doch seit vier Jahren füllt Peter wieder farbige A4-Bücher – zwar täglich und mit System: «Pro Woche gibt es eine Doppelseite. In den Kästchen auf der linken Hälfte fasse ich meinen Tag kurz und eher oberflächlich zusammen.» Die «tiefere» rechte Seite spart sich Peter für die Gedanken auf, die ihn bewegen. «Ich philosophiere, denke über die Welt nach, erinnere mich an mein Leben … Es tut gut, Gedanken zu ordnen und auszuformulieren – so werden sie fassbar.» Danach fühle er sich «befriedigt und gelöst».
In seinem aktuellen Tagebuch liest Peter «öppedie», die älteren Bände nimmt er jedoch selten wieder zur Hand. Seine Einträge jemand anderem zu offenbaren, wäre ihm zu persönlich. «Ich habe meine Frau gebeten, die Tagebücher zu vernichten, sollte ich irgendwann nicht mehr schreiben können.» Doch was liegt dem passionierten Gedankensammler schliesslich an seinem Tagebuch? «Mich würde es nicht allzu sehr beschäftigen, es zu verlieren. Es geht mir vor allem um das Reflektieren und Strukturieren im Moment selbst.»
Das macht mich nachdenklich. Tagebuchschreiben scheint also auf zweierlei Weise bedeutungsvoll zu sein. Für Peter besteht der Wert im Prozess des Reflektierens und im Fassbarmachen seiner Gedanken. Wie gelingt es ihm, sich vom Aufgeschriebenen wieder zu lösen, während ich mich beinahe krampfhaft an meine erinnerten Zeilen klammere?
Früher schrieben sie alle ein «Ferien-Logbuch». Das einst wenig beliebte Familienritual hat sich für Florine zu einer Freundin entwickelt, der sie alles anvertrauen kann. Die 14-Jährige macht immer dann einen Eintrag in ihr «liebes Tagebuch», wenn sie etwas beschäftigt oder stresst. «Nachdem ich alles Negative rauslassen konnte, schreibe ich auch über positive Dinge und was sonst so läuft.» Jeder Eintrag in das mattgraue A5-Buch endet mit einem runden Abschluss. Florine schreibt nicht regelmässig, aber wenn sie schreibt, dann lange: «Bis ich meine Probleme losgeworden bin.» Danach fühlt sie sich erleichtert und hat «nicht mehr so viel auf dem Gewissen und im Kopf» – wie zum Beispiel die vergessene Klavierstunde oder das ein oder andere Drama mit einem Jungen.
Florine blättert gerne durch ihre Erinnerungen. «So bereite ich mich zum Beispiel nach den Ferien auf die Schule vor.» Sie würde jedoch niemandem aus ihrem Tagebuch vorlesen. «Beim Tagebuchschreiben werden mir meine ehrlichen Gedanken erst richtig klar.» Diese sind trotz mancher Schwere bewahrenswert. «Manchmal stelle ich mir vor, dass ich das alles als Erwachsene mal lesen und darüber lachen werde.» Für Florine wäre es schlimm, ihr Tagebuch zu verlieren.
Die Beschreibungen in einem Tagebuch sind wie eine Geheimsprache, die genau diejenige Person in den Moment zurückfühlen lässt, die ihn einst erlebt und festgehalten hat.
Wenn es um das Einfangen von Gefühlen geht, ist Leonie eine Spezialistin. Die vielen Bücher in ihren Kartonschachteln erzählen von Erinnerungen aus über 10 Jahren – von ihren Reisen und dem Alltag. «Ich schreibe und sammle schon immer sehr gerne», erzählt die 21-Jährige. Im Mäppli am Rücken ihres Tagebuchs bewahrt sie Andenken wie Festivalbändchen, Chärtli oder Tickets auf. Ihr zweites Buch, «One line a day», ist dafür gedacht, über zehn Jahre hinweg jeden Tag einen Satz zu notieren. Leonies Einträge sind «immer chli deep». Sie schreibt, wenn sie etwas berührt hat – in jeglicher Weise. «Ich ordne meine Gedanken und setze mich intensiv mit mir selbst auseinander, dabei hinterfrage ich schon sehr viel. Danach fühle ich mich erleichtert, als hätte ich es jemandem erzählt.»
Die Reisetagebücher sind für Leonie etwas anderes: «Dort dokumentiere ich alles, was ich erlebt habe, bis ins Detail.» Die Weltenbummlerin verziert ihre Texte und klebt Erinnerungsstücke ein. «Oft halte ich alle fünf Sinne fest.» Wenn Leonie in ihren Tagebüchern liest, ist es, als würde sie in ein Foto eintauchen. «Ich kann mich in die damalige Situation hineinversetzen, was ich gefühlt und gedacht habe und welche Wirkung es auf meinen Körper hatte. Manchmal ist es krass, ich rieche es sogar.» All ihre aufgeschriebenen Geschichten sind nur für sie selbst gedacht. «Sie sind wie eine Art Brief an mein zukünftiges Ich.»
Auch Leonie hat schon Tagebücher verloren. Doch trotz ihrer feinen Art zu schreiben, machte ihr der Verlust nicht so viel aus. «Meist habe ich die Dinge durch das Aufschreiben bereits verarbeitet, und die schönen Erinnerungen in mir drin, die bleiben.»
Einige Wochen nach dem Verlust meines Tagebuchs begann ich, es zu rekonstruieren – doch ich kam nicht wirklich voran. Ich wollte mir selbst beweisen, dass die Erinnerungen nicht verloren sind. Aber je mehr ich mich an meine damaligen Wortlaute zu erinnern versuchte, desto mehr verschwammen sie. Das tat weh – so viel Projektion auf ein so kleines Büchlein.
Die Gespräche mit Peter, Florine und Leonie waren irgendwie heilsam. Ein Tagebuch ist wirklich etwas Wunderbares. Doch egal, ob einmal aufgeschrieben oder nicht: Es gibt noch so viele Gedanken, irgendwo in uns drin, die uns vielleicht plötzlich, wenn wir es gar nicht erwarten, wieder begegnen.