Global Care Chains: zirkuläre Ungleichheiten im Schatten der westlichen Emanzipation

Das Phänomen der Global Care Chains zeigt auf, dass Feminismus nicht auf wenige privilegierte Frauen* beschränkt bleiben kann. Es ist an der Zeit, sich für ein würdevolles Leben für alle einzusetzen und gemeinsam die strukturellen Ungleichheiten in der Reproduktionsarbeit zu überwinden.

Autor:in:
Laura Reding
Titelbild:
Laura Reding

Die selbstbewusste westliche Frau* bringt alles unter einen Hut: sie macht Karriere, ist eine empathische Mutter, kümmert sich natürlich um die Kinder, macht Sport, ernährt sich gesund, ist schlank und selbstverständlich top gestylt. Also nicht nur im Beruf, sondern auch mit unbezahlter Arbeit zu Hause jongliert sie und widmet sich ganz nebenbei ihrem körperlichen Wohlbefinden. Durch die Auflistung von neoliberalen Anforderungen an eine erfolgreiche emanzipierte Frau* wird klar, dass keine Zeit für den unsexy Haushalt bleibt. Die Lösung für das Problem liegt auf der Hand: eine Haushaltshelferin* anstellen. Doch hinter der verlockend simplen Möglichkeit verbirgt sich ein komplexes Phänomen der Global Care-Chain, das uns alle betrifft.

Lücken in der Sorgearbeit

Während Frauen* seit den 1990 vermehrt die Erwerbsarbeit erobern, zeigen Zahlen, dass Männer die private Sphäre bei Weitem nicht so euphorisch einnehmen, wie es sinnvollerweise zu erwarten wäre. Die Care-Arbeit mit all ihren emotionalen, mentalen und zeitlichen Dimensionen bleibt also klar «weiblich» konnotiert. Eine Doppelbelastung ist förmlich vorprogrammiert. Doch das Phänomen der Global Care-Chain lässt sich nicht nur als Schattenseite des neoliberalen Feminismus betrachten, es ist auch ein Nebeneffekt unserer rasant alternden Gesellschaft. Die steigende Nachfrage nach Betreuung und Pflege von älteren als auch kranken Menschen schreit förmlich nach mehr helfenden Händen. Frauen* fehlen demnach nicht nur im Privaten, sondern im ganzen Sorgearbeitssektor - eine enorme Lücke in der Care-Arbeit im Globalen Norden ist entstanden. Unser profitorientiertes kapitalistisches System hat darin eine Goldgrube gefunden, denn auf Nachfrage folgt bekanntlich Angebot und so wurde der durchaus lukrative globale Markt für bezahlte Sorgearbeit geboren. Doch was den einen Profit schöpft, lastet auf den Schultern von anderen. Auch in der Schweiz.

Situation in der Schweiz

Die Sorgeketten in der Schweiz wurden mit der Osterweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 verfestigt, wie der Forschungsbericht von «Decent Care Work» von 2021 zeigt.  Denn mit der Öffnung der Grenze und der damit einhergehenden Personenfreizügigkeit für Staatsangehörige der neuen EU-Mitgliedstaaten folgte eine Zunahme der osteuropäischen 24-Stunden Betreuer*innen in Schweizer Privathaushalten. Die «liebevollen Slowak*innen» und «polnischen Engel» sind nicht nur in den eigenen vier Wänden, sondern auch medial präsent, wobei ihre Taten heroisiert und beschönigt werden. Doch auch das Schweizer Spital bedient sich den zirkulär migrierenden Frauen*, wie ein aktueller Bericht von SRF im Februar 2024 aufzeigt. Eingeflogene Philippinerinnen sollen das Kantonsspital Liestal temporär bei der Personalnot entlasten. Zirkulär migrierende Frauen* retten die Schweizer Wirtschaft förmlich, denn ohne die Care-Arbeit der Frauen* würde unser System kollabieren. Da drängt sich die Frage auf, wer sich für die prekäre Realität der Arbeiterinnen einsetzt? Das Arbeitsgesetz auf jeden Fall nicht. Das fehlende Einmischen der Politik in die vermeintliche Privatsache von umzäunten Einfamilienhäusern und neokoloniale Rekrutierungspraktiken seitens Spitäler verschleiern die ausbeuterische Realität.

Teufelskreis im weissen Gewand

Früher stand hinter jedem erfolgreichen Geschäftsmann eine aufopfernde Hausfrau, heute befinden sich zirkulär migrierende Frauen* im Schatten von weiblichen Bosses slash Mütter. Während die bürgerliche Kleinfamilie ihr Kapital anhäuft, schuften rassifizierte Frauen trotz Hungerlöhne für sie. Und während «heimische» Frauen* keine Lust auf bezahlte Care-Arbeit aufgrund von missmutigen Arbeitsbedingungen und schlechtem Lohn haben, werden die Lücken mit «fremden» Frauen* gefüllt, die ja froh sein können, überhaupt einen Job zu haben. Egal ob im vermeintlich Privaten oder Öffentlichen: beiden Praktiken im Gewand des Neoliberalismus liegt eines Inne: die (Re)produktion und Verstärkung von geschlechtlichen, rassistischen und klassistischen Machtverhältnissen. Statt uns zu fragen, ob feministischer Fortschritt darin liegt, Frauen* dem rationalen, gewinnorientierten männlichen Ideal anzupassen, lassen wir uns vom Schein der weissen elitären Emanzipation blenden. Und anstatt die strukturellen Bedingungen im Pflegesektor wie in Spitälern zu verbessern, erliegen wir der Illusion einer günstigen Globalisierung.  

Wie raus?

Meiner Ansicht nach verdeutlicht die Problematik der Global Care Chains, dass der feministische Kampf nicht auf wenige privilegierte weisse Frauen* beschränkt bleiben darf. In meinem Verständnis von Feminismus sollen wir uns für ein würdevolles Leben für alle einsetzen, wobei (mehrfach) marginalisierte Frauen*, die im Schatten des Neoliberalismus stehen, mitgedacht werden müssen. Zudem drängt sich die Frage auf, wie lange wir noch im Strudel des kapitalistischen Wetteifers den Einzelwettbewerb aufrechterhalten wollen? Würde es sich nicht langsam lohnen, und ja, an dieser Stelle nicht aus wirtschaftlicher Perspektive, unsere Abhängigkeit von anderen anzuerkennen und gemeinsam, kollektiv, solidarisch, die Global Care Chains und somit auch die «natürliche» Feminisierung der Reproduktionsarbeit zu durchbrechen? Lasst uns das gemeinsam angehen.  

Verlosung

Infobox

Global Care Chains – Begriffserklärung  

Der Begriff Global Care Chains, geprägt von der Soziologin Arlie Hochschild, beschreibt die geschlechterspezifische Verschiebung der Sorgearbeit: rassifizierte Frauen* aus ärmeren Ländern übernehmen die bezahlte Care-Arbeit von wohlhabenderen, weissen Frauen* im globalen Norden. Als Kettenreaktion kommt es unausweichlich zu einem sogenannten Care-Drain, einem Pflegenotstand in den Herkunftsländern der bezahlten Sorgearbeiter*innen, wobei noch schlechter gestellte Frauen* zum Nachrücken gezwungen werden.