Zwölf Jahre ist es her, seit die nigerianische Schriftstellerin und Aktivistin Chimamanda Ngozi Adichie ihren letzten Roman «Americanah» veröffentlicht hat. Doch das lange Warten hat sich definitiv ausgezahlt, denn in ihrem neusten Werk «Dream Count» erzählt Adichie kraftvoll und einfühlsam die Geschichten von vier afrikanischen Frauen und macht weibliche Erfahrungen sichtbar, die sonst oft im Verborgenen bleiben. Sie erschafft dynamische, greifbare Charaktere und zeigt die Relevanz des scheinbar Kleinen und Alltäglichen eindrücklich auf. Dabei scheut sie sich keineswegs vor grossen Themen und Gesellschaftskritik.
Chimamanda Ngozi Adichie trifft mit ihrer Wortwahl fast ausnahmslos ins Schwarze und nimmt die Leserschaft mit in eine farbenfroh aufgezeichnete Welt mit Hauptcharakteren, welche einem sofort ans Herz wachsen und bei denen einem nichts anderes übrigbleibt, als mit ihnen zu leiden und zu lachen. Adichies Protagonistinnen sind alles andere als perfekt, doch genau diese Eigenheiten und Fehler machen sie glaubwürdig und deshalb so liebenswert.
Die Autorin lässt nichts ungesagt und doch schafft sie es, mich als Leserin nicht mit unnötig wirkenden Details zu langweilen. Kaum ein Wort ist zu viel. Zudem gelingt es ihr, einige Phänomene unserer Zeit haargenau auf den Punkt zu bringen und sie dabei oft auch in Frage zu stellen oder anzuprangern, ohne der Leserschaft ihre Meinung aufzuzwingen. Diese perfekte Balance zeichnet sie für mich aus. Hier ein Beispiel:
Durch das Buch begleiten uns vier Frauen mit völlig unterschiedlichen Lebensentwürfen und Visionen: Chiamaka, Zikora, Kadiatou und Omelogor. Chiamaka und Omelogor erzählen aus der Ich-Perspektive, während die Geschichten von Zikora und Kadiatou, in der dritten Person erzählt werden. Meine Vermutung, weshalb die Autorin dies so gewählt hat, ist, dass Chiamaka und Omelogor in der Geschichte selbstbestimmter und freier von Zwängen auftreten. Sie scheinen mehr Handlungsspielraum und auch Mut zu haben, Dinge nicht einfach über sich ergehen zu lassen, sondern ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Den Titel verdankt der Roman seiner Protagonistin Chiamaka. Die in Maryland wohnhafte Reiseschriftstellerin lässt während der Corona Pandemie ihre vergangenen Liebschaften Revue passieren, ihren «Dream Count».
Mit jeder Trennung verpasst sie die Chance, ihren Traum wahr werden zu lassen. Chiamaka sehnt sich nämlich nach einer Partnerschaft, in der man sich gegenseitig vollkommen kennt und versteht.
Sie erzählt uns von Darnell, mit dem sie eine toxische Beziehung führt. Weiter gab es Chuka, der scheinbar perfekt war und sie unterstützte, den sie aber nicht so sehr lieben konnte, wie sie es gerne wollte.
Sie lernt einen spannenden «Englishman» kennen, der jedoch ein unschönes Geheimnis hat und stürzt sich danach in eine Beziehung, die ihr zu wenig in die Tiefe geht. Es gab weitere flüchtige Bekanntschaften beim Einkaufen, im Flugzeug oder in einer Bar. Als sie am Ende der Geschichte auf ihren «Dream Count» zurückblickt, kommt sie zu spannenden Erkenntnissen.
Chias beste Freundin Zikora hat einen scheinbar simplen Lebensplan: Sie will einen guten Job haben, dann christlich heiraten und mit ihrem Mann zwei bis drei Kinder grossziehen. Doch alles verläuft völlig entgegen ihren Erwartungen. Bereits in jungen Jahren muss sie etwas tun, für das sie sich ihr Leben lang schämt. Beruflich ist sie zwar erfolgreich als Anwältin, doch beziehungstechnisch läuft es weniger gut. Nach zwei unbefriedigenden Liebschaften ist sie anfangs Dreissig kurz vor dem Verzweifeln.
Doch dann scheint alles eine positive Wendung zu nehmen: Sie lernt Kwane kennen, mit dem sie eine liebevolle Beziehung führt, geprägt von gegenseitigem Respekt, guter Kommunikation und Humor. Sie hört auf zu verhüten und wird schwanger. Ihr Leben läuft endlich nach Plan. Doch dann passiert etwas völlig Unerwartetes und Zikora steht allein da. Zu allem Unglück hat sie mit einer schwierigen Schwangerschaft zu kämpfen.
Während der herausfordernden Geburt ihres Sohnes sowie in den Wochen danach steht ihre Mutter Zikora bei, obwohl sie diese zuerst gar nicht dabeihaben wollte. Erst dann beginnt sie, ihre Mutter in neuem Licht zu sehen.
Kadiatou, die in Guinea aufwächst, führt ein Leben geprägt von Schicksalsschlägen. Ihr geliebter Vater stirbt bei einem Arbeitsunfall in einer Mine. Das neue männliche Familienoberhaupt bestimmt, dass die Familie in ein Dorf umzieht, in dem es keine Schule gibt. Kadis Cousin, mit dem sie hätte verheiratet werden sollen, entscheidet sich für eine andere Frau. Einzig ihre Schwester Binta gibt ihr noch Hoffnung. Diese ist ein Freigeist und hat trotz schwieriger Umstände grosse Zukunftspläne.
In Guinea ist es üblich, dass Mädchen beschnitten werden, nur so gelten sie für Männer als «heiratsfähig». Auch Kadi und ihre Schwester sind betroffen und Binta stirbt schliesslich an den Folgen dieser Genitalverstümmelung. Kadiatou ist am Boden zerstört und verspürt nun einen grossen Druck, als einzige Tochter den Erwartungen ihrer Eltern gerecht zu werden. Sie wird gezwungen, einen Minenarbeiter zu heiraten. Nach einer Fehlgeburt stirbt auch ihr zweites Kind und ihr Mann kommt in der Mine ums Leben. Kadiatou merkt, dass sie erneut schwanger ist. Sie benennt ihre Tochter nach ihrer verstorbenen Schwester Binta und zieht mit ihr zu Verwandten. Kadi schlägt sich mit verschiedenen Jobs durch. Sie ist eine hervorragende Köchin und träumt hin und wieder von einem eigenen Restaurant. Nach einer Schicht in einem Strandlokal vergewaltigt sie der Besitzer in einem Lagerraum. Aus Scham erzählt sie niemandem von diesem Übergriff.
Kadiatous Leben wird komplett auf den Kopf gestellt, als plötzlich ein alter Bekannter ihr und Binta hilft, Asyl in den USA zu erhalten und eine Unterkunft für die beiden organisiert. Kadi nimmt schliesslich in D.C. einen Job an und kann sich eine kleine Wohnung leisten. Dort lernt sie auch Chiamaka kennen und wird von ihr als Haushälterin angestellt. Zudem arbeitet Kadi als Reinigungskraft in einem Hotel. Ihr gefällt ihre Arbeit und sie ist stolz darauf, dass sie Binta durch ihren Lohn ein gutes Leben ermöglichen kann. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie glücklich.
Doch dieses Glück wird bald wie durch einen Hammerschlag zerschmettert. Bei der Reinigung eines Hotelzimmers wird sie von einem sehr wohlhabenden und berühmten Gast sexuell missbraucht. Die Medien werden schnell auf den Fall aufmerksam und handeln ihn sehr einseitig ab. So kursieren zahlreiche Lügen über Kadiatou. Schlussendlich wird die Anklage gegen den Hotelgast fallen gelassen, da Kadiatou angeblich bei ihrem Asylverfahren gelogen haben soll.
In der «Author’s Note» erfahren wir, dass die Figur Kadiatou zwar fiktiv ist, ein Teil ihrer Geschichte jedoch auf dem Fall von Nafissatou Diallo beruht. Sie ist eine Migrantin, welche in einem New Yorker Hotel als Reinigungskraft arbeitete und 2011 einen Gast wegen sexueller Nötigung anklagte. Der Gast war niemand geringeres als Dominique Strauss-Kahn, der damalige Direktor des Internationalen Währungsfonds und Kandidat für die Präsidentschaftswahl in Frankreich. Die Autorin möchte Nafissatou Diallo mit dieser fiktiven Nacherzählung ihres Falles einen Teil der Würde wiedergeben, welche ihr damals genommen wurde. Denn auch sie wurde, wie Kadiatou, wahnsinnig ungerecht vom amerikanischen Staat und den Medien behandelt. Adichie schreibt über Diallos Fall:
Chiamakas Cousine Omelogor lebt in Abaju, der Hauptstadt von Nigeria, und arbeitet dort bei einer Bank. Dank ihrer selbstbewussten und direkten Art hat sie einen grossen Freundeskreis und bringt es beruflich schnell sehr weit. Chiamaka beschreibt es wie folgt:
Sie mag es, selbst viel Geld zu verdienen, um nicht von anderen Leuten abhängig zu sein oder in deren Schuld zu stehen. Sie hat immer wieder kurze Liaisons mit Männern, wenn ihr danach ist, aber hat kein Bedürfnis danach, sich längerfristig an einen Mann zu binden.
Schnell wird ihr klar, dass das lokale Bankenwesen korrupt ist und dass riesige Geldsummen für mächtige Männer gewaschen werden. Sie spielt eine Zeit lang mit und ist selbst auch an diesen Transaktionen beteiligt. Schliesslich beginnt sie, sich selber zu bereichern und dieses gestohlene Geld an Frauen mit kleinen Unternehmen zu verschenken.
Irgendwann werden ihre Gewissensbisse allerdings zu gross und sie kündet ihren Job. Aufgrund einer Reihe von Erlebnissen beginnt sie sich für Pornografie zu interessieren. Sie realisiert, dass wohl viele Männer ihr Wissen über Sex aus Pornos erworben haben. Deshalb entscheidet sie sich, in den USA ihren Master zum Thema Pornografie zu machen. Dort angekommen, fühlt sie sich jedoch überhaupt nicht wohl und sie findet keine echten Freund:innen. Von ihren Studienkolleg:innen fühlt sie sich missverstanden und hat den Eindruck, dass diese einer liberalen Ideologie verfallen sind und keine anderen Perspektiven zulassen.
Adichie ist bekennende Feministin und sie führt in «Dream Count» anschaulich vor Augen, weshalb. Es gelingt ihr, die omnipräsente Misogynie im Leben der vier Frauen immer wieder durch Alltagssituationen aufzuzeigen, scheinbar beiläufig und doch so, dass die Erzählungen lange nachwirken.
Die Beispiele in der Geschichte sind zahlreich. Sei es Chias Freund, der ihre starken Menstruationsbeschwerden nicht ernst nimmt, die Leiterin des Debattierclubs, welche Chia nur für ihre Schönheit lobt, während bei den Jungen die Leistung bejubelt wird oder Zikoras Mutter, die ohne ihre funktionierende Gebärmutter für ihren Mann wertlos wird. Weiter gibt es in Kadis Familie das männliche Oberhaupt, welches alles über die Köpfe der Frauen hinweg entscheiden kann. Da sind all die Mädchen wie Kadi, deren Genitalien verstümmelt werden, die zwangsverheiratet werden und für die es zur Ehe dazugehört, von ihrem Mann zum Sex genötigt zu werden. Zudem beschreibt die Autorin Omelogors Tante, die ihr einreden will, ihr Leben sei ohne Mann und Kinder leer, ihren One-Night-Stand, der durch ihre Ablehnung gekränkt ist und anschliessend Unwahrheiten über sie verbreitet oder ihre Mutter, die nicht will, dass sie sich selbst ein Haus kauft, da es Männer einschüchtern und abschrecken könnte. In Adichies Erzählungen wimmelt es von Männern, die lügen, unzuverlässig sind, Frauen auf ihr Äusseres reduzieren, sie unterschätzen, im Stich lassen oder vergewaltigen. Diese patriarchalen Strukturen ziehen sich durch alle im Buch vorkommenden Generation und Kulturen.
Umso wichtiger wirkt die Tatsache, dass Adichie diese Geschichte rein aus Frauenperspektive erzählt und deren Erfahrungen einen Wert zuspricht. Obwohl es sich bei «Dream Count» um eine fiktive Geschichte handelt, lässt sich nicht von der Hand weisen, dass wohl die meisten, wenn nicht alle, weiblichen Erfahrungen im Buch aus dem wahren Leben gegriffen sind.
Auffallend ist auch, dass das äussere Erscheinungsbild der Frauen kaum thematisiert wird. Im Gegenteil geht es immer darum, was in ihrem Inneren vorgeht, was sie denken und zu sagen haben. Dies empfand ich als sehr erfrischend und ist leider auch heutzutage keineswegs selbstverständlich.
In der Author’s Note schreibt Chimamanda Ngozi Adichie, um was es in ihrem Buch für sie wirklich geht: Um ihre Mutter, welche kürzlich verstorben ist. Sie hat wohl recht mit ihrer Vermutung, dass dies für die Leserschaft nicht sofort ersichtlich ist.
Doch sobald ich diese Information im Nachwort erhalten hatte, wurde ich mir um die starke Präsenz von Mutter-Tochter-Beziehungen in Adichies Geschichte bewusst. So erhält man einen Einblick in die komplexe Beziehung von Zikora und ihrer Mutter. Die beiden Frauen beginnen erst, sich zu versöhnen, als Zikora selbst ein Kind bekommt. Auch Kadiatou, die sich nichts mehr wünscht, als ihrer Tochter Binta ein besseres Leben in den USA zu ermöglichen, spielt im Buch eine zentrale Rolle. Zudem kann man Omelogor an dieser Stelle erwähnen. Sie hat zwar keine Kinder, kümmert sich allerdings in gewisser Weise mütterlich um das Mädchen Atasi, welches sie durch einen Unfall kennengelernt hat.
Schliesslich werden im Buch weitere grosse Themen wie Rassismus, Sexualität, die Corona Pandemie, Homophobie, Aberglaube und Politik thematisiert. Ein Märchen ist «Dream Count» zwar nicht, aber märchenhaft erzählt. Chimamanda Ngozi Adichie ist es einmal mehr gelungen, das wahre Leben hervorragend abzubilden und mich als Leserin mit ihren treffenden Worten mitzureissen.
Im Nachwort beschreibt Adichie, wie ihre verstorbene Mutter wohl auf den Charakter Kadiatou reagiert hätte, nämlich mit den Worten «my fellow woman». Dieses Mitgefühl für die Geschichten dieser Frauen erfüllte auch mich während und nach der Lektüre von «Dream Count». Und ich glaube, davon könnte unsere Welt im Moment ruhig etwas mehr vertragen.