Im Hotel Schweizerhof Luzern haben über die Jahre zahlreiche bekannte Persönlichkeiten übernachtet – darunter Könige, Filmschaffende, Künstler:innen und Politiker:innen. Die Anwesenheit von beeindruckenden Gästen wie Mark Twain, Leo Tolstoi oder Roger Moore verleiht dem Haus eine ganz besondere Ausstrahlung. Die Geschichte des Hotels ist eng verwoben mit bedeutenden Ereignissen und faszinierenden Menschen, die sie nachhaltig geprägt haben. So wurde beispielsweise Richard Wagners weltberühmte Oper «Tristan und Isolde» während seines Aufenthalts im Schweizerhof fertiggestellt – ein historischer Moment, der dem Haus zusätzlichen Glanz verleiht.
Und dann sowas: Shaggy, «Mr. Lover Lover» himself, spielte im April im Schweizerhof. Ein Erfahrungsbericht.
Ich verbinde mit Reggae und Dancehall Liebe, Rebellion, Freiheit und Sex. Mit dem Schweizerhof verband ich das eigentlich weniger. Ich versuchte, so unvoreingenommen wie möglich den edlen Saal zu betreten. Ich erwartete keinen Abriss wie in der Roten Fabrik in Zürich oder der Coupole in Biel. Eher ein glanzvolles, hochanständiges Konzert eines älter gewordenen Künstlers, der etwas zur Ruhe gekommen ist. Ob da sogar gestuhlt ist? Hoffentlich nicht.
Nein, Stühle standen zum Glück keine im Saal. Dennoch: Als ich von einem Menschen im Anzug freundlich willkommen geheissen wurde und die Cüpli-schlürfenden Gäste sah, sank meine Erwartung an ein schweisstreibendes Reggae-Konzert aufs Minimum. Der vordere rechte Teil des Saals war abgesperrt. Für die VIPs. Immerhin werde dieser Bereich kurz vor dem Konzert dann freigegeben, informierte mich eine Mitarbeiterin hinter der Bar. Neben mir stand ein Mann mit langen Dreadlocks. Er drehte sich zu seiner Begleiterin um. «Bomboclat! Wah kinda place dis? Weh mi end up? Wah kinda rich people dem yah? Mi deh pon di right place?»
Okay. Wie gesagt, ich hatte keine hohen Erwartungen. Das zu 99 % weisse Publikum stand an den Stehtischen und trank. Auch ich gönnte mir einen Gin Tonic. Es lief Musik. Der DJ ignorierte gekonnt das Zielpublikum des Events und präsentierte die wohl unpassendste Playlist, die man sich für so einen Abend aussuchen konnte. Anstelle das Publikum passend zum Künstler und zum Thema des Abends einzustimmen, kassierte das Publikum die «80er/90er-gemütlicher-Abend-Pop-aber-ja-nichts-mit-Reggae-Dancehall-Playlist». Der Saal füllte sich, aber diese Musik fühlte niemand. Auch die Bandmitglieder, die sich auf der Bühne in Stellung brachten, sahen eher verwirrt aus. Die Gesichtsausdrücke des Gitarristen und des Drummers sprachen Bände: «Bomboclat! Wah kinda place dis? Weh mi end up? Mi deh pon di right place?»
Ich brauchte direkt noch einen Drink. Das konnte ja heiter werden. Das Licht wurde dunkel, das Intro erklang. Ein netter Mann betrat die Bühne und begrüsste das Publikum im Namen des Schweizerhofs und des Festivals. Es folgte eine Ansage der Kategorie «Ich frage mal ChatGPT, was ich da auf der Bühne zu Shaggy erzählen soll». Einen grossen Hit hätte Shaggy in den 90ern gehabt. Sie seien stolz, dass dank ihnen der Künstler zum ersten Mal in der Schweiz sei. Ein Raunen ging durchs Publikum, vereinzelt waren Buh-Rufe zu hören. Ich war froh, dass die Musiker auf der Bühne kein Schweizerdeutsch verstehen.
Endlich gings los. Shaggy betrat die Bühne. Die Cüpli-Trinker:innen (mit Betonung auf «innen») verwandelten sich auf einen Schlag in Teenager aus den 90er Jahren. Nur die vielen Smartphones in der Luft erinnerten daran, dass wir uns im Jahr 2025 befinden. Wenige Minuten später verschwinden die meisten Handys zum Glück wieder in den Taschen. Shaggy, der ganz und gar nicht altersmüde wirkt, scherzt: Er habe am Vormittag den Saal gesehen. Er habe sich gefragt, ob sein Konzert in dieser Atmosphäre wirklich funktionieren könne. Aber jetzt mache er sich keine Sorgen mehr. Gesagt, getan: Shaggy entledigte sich unter Jubel seiner Jacke und schaltete direkt in den höchsten Gang.
Einen Hit nach dem anderen schmetterte er. Spätestens jetzt begriff wohl auch der Moderator, dass Shaggy alles andere als ein One-Hit-Wonder ist. Es folgte ein Medley der grössten Reggae-Dancehall- und Hip-Hop-Songs der Geschichte. Spätestens bei «Jump around» von House of Pain drehte das Publikum komplett durch. Nach ein paar Sekunden wurde der Beat «gekillt» und der nächste Song erklang. Der ganze Saal sang kurz vor der Ekstase zu «Three Little Birds» von Bob Marley. Schnitt. Die Scheinwerfer wurden rot und blau. «Whatcha want, whatcha want? Whatcha gonna do?» ertönte es von der Bühne. Das Publikum liess zu «Bad boys» nun definitiv alle Hemmungen fallen. Es folgte «Red wine» von UB40, bis Shaggy schliesslich wieder seine eigenen Songs performte. Die Stimmung kochte. Das Publikum kam nicht mehr zur Ruhe. Wie beim Pingpong ging die Energie hin und her.
Bereits in der Mitte des Konzerts waren alle komplett verschwitzt. Shaggy versprühte seinen Charme. Ein Wunder, flogen ihm keine BHs entgegen. Es waren wohl alle zu sehr damit beschäftigt, die zahlreichen Hits mitzusingen: Von «Mr. Boombastic» und «Angel» über «Oh Carolina» und «In the summertime» knallte er uns seine Songs um die Ohren und auch die neuen Perlen wie «Go down deh» oder den erst kürzlich erschienenen Song mit Sting «Til a mawnin» sorgten für gute Stimmung. Nach 1,5 Stunden endete das Konzert mit «Strength of a woman» und «It wasn’t me». Das Publikum feierte euphorisch die Band und den Abend … «Shaggy, Shaggy, Shaggy» tönte es durch den Saal. Verschwitzt wie nach einem Rausch torkelte die Menge an die frische Luft.
Mein Umfeld zog ein kurzes Fazit. Man ist sich einig, dass niemand mit einer solchen Stimmung gerechnet hätte. Auch hätten wir nie gedacht, dass Shaggy auch mit 56 nichts an Power und Sexappeal verloren hat. Und auch wenn man ewig hätte weiterfeiern können: Alle sind froh, dass sie den Saal zwecks Sauerstoffversorgung und der karibischen Temperaturen verlassen können.
Als ich den Ausgang ansteuerte, hörte ich, wie der DJ wieder die Führung übernahm. Mr. President und «Coco Jamboo» begleiteten mich auf dem Weg nach draussen. Ein harter Stilbruch. Egal. Ich bin glücklich.