Planlos, aber selbstbewusst: Ein Plädoyer für mehr Improvisation

Neujahrsvorsätze kontern bekanntlich den Kater des vergangenen Jahres. Doch dieses Theater gewisser orchestrierten Selbstoptimierungen ist oftmals eine Illusion. Man hält sich halbpatzig an den Plan, hat ihn nach 2 Monaten vergessen und er entpuppt sich als fremde Erwartungen. Deswegen plädiere ich für mehr Improvisation ohne dramatische Grundlage.

Autor:in:
Léon Schulthess
Titelbild:
Pixabay
Hinweise:

Text vergessen, Licht fällt aus, jemand tritt nicht auf, Black Out – und du stehst mitten auf der Bühne vor einem dir bewusst werdendem Publikum. In Sekundenschnellen rattert dein Kopf, dein Körper pulsiert und du versuchst als Figur zu improvisieren. Diese szenischen Katermomente, in denen du unvorbereitet aber maskenhaft kontern musst, bauschen sich zu privaten Tragödien auf. Diese Schmach geht dir nicht aus dem Leib, bis du vom applaudierenden Publikum zu hören bekommst, wie reibungslos die Aufführung gewesen war. Denn im Schutz der von deinem Spiel manifestierten Bühne können sogar ganze Szenen 80 Minuten lang im Shuffle-Modus umhergeschoben werden (nicht, dass das mir schon mal widerfahren wäre).

In der Improvisation steckt der menschliche Instinkt des theatralischen Spiels, dem nicht nur das griechische Drama sondern auch das alltägliche entsprungen war. Diese Scham, die sich einem übergiesst, sobald man einer vermeintlichen Kollegin auf offener Strasse zugewinkt hatte und man darauf mit der Hand improvisierte Rettungsaktionen vollzieht. Oder die Begegnung einer unpässlichen Person in der Migros, worauf man minutenlang das Katzenfutter anstarrt, obwohl man eine Katzenallergie hat. Alles unvorhergesehene Käterchen des Alltags, die man mit beschämter Unsicherheit zu kontern versucht. Behauptet man aber seine Hand und das Katzenfutter zur eigenen nüchternen Bühne, spielt sich auch kein tragisches Drama in sich selbst ab. Höchstens eine Komödie, über die man lachen darf.

Neugierig gegen die Erwartungen anspielen

Es war die bürgerliche Hofschicht, die die szenische Improvisation pöbelnd gemacht hatte. In der Struktur der tugendhaften Gesellschaft und der elitären Tragödie hatte das Spontane keinen Platz mehr. So wurde der Stegreif dem Jahrmarktstheater und umherziehenden Wandertruppen überlassen, die das gemeine Fussvolk unterhielten. Jahrhunderte später befreite sich die alternative Szene durch Improvisation auf und hinter der Bühne von den Zwängen der gestrafften Stadttheater und entwickelte neue Potenziale. Der historische Blick zeigt, dass die Extemporation Möglichkeiten der eigenen Entfaltung abseits des gesitteten, bourgeoisen Bürgertums und ihren Erwartungen geschaffen hatte. Und mit dem Theatersport wuchs die Improvisation gar zu einer angesehenen Disziplin der Kleinkunst heran. So kann die Improvisation auch in der heutigen kapitalistischen Leistungsgesellschaft ohne Fehlerkultur Auswege zeigen.

Als ich jünger war, haben sich erwachsene Menschen über meine Spontanität gefragt. Und ich habe gelacht, wenn sie einen Kaffee für in zwei Wochen verabredeten. Naja… ich fühle mich ja schon noch jung, aber auch ich habe jetzt bereits im Februar Freizeit terminiert. Eine klaffende Leere in meiner Agenda lässt mich schwitzen, denn ich bin verloren in einem nicht durchstrukturierten Drama. Der Genuss am Improvisieren in der Planlosigkeit ist mir und wahrscheinlich auch vielen anderen abhanden gekommen. Sich beweisen, etwas produktiv leisten, die Agenda durchplanen – dieses stressige Pflichtgefühl ist omnipräsent, da man sich womöglich zu selten zutraut, in der chaotischen Freizeit aus dem Stegreif zu erblühen. Da ist die ergebnisoffene Improvisation im eigenen Leben eine Möglichkeit, dem straffenden Leistungsdruck gelassen und spielerisch Paroli zu bieten.

Weniger selbstbezogenes Drama, dafür mehr Applaus

Die Improvisation fordert uns schlussendlich im Theater und Alltag auf, uns selbst zu vertrauen, und birgt eine ungeheure Selbstwirksamkeit und Kreativität. Es geht nicht um Perfektion oder die totale Anarchie, sondern um die Neugier, sich im Unvorhergesehenen wieder oder neu zu finden, und um das Behaupten des spontanen Happenings. Der eigene Stegreif ist auch ein selbstbewusster Widerstand gegen die gesellschaftliche Norm und bestehende Strukturen, die einem gewisse Neujahresvorsätze und Schamgefühle aufdrängen wollen. Wenn wir also wieder einmal mehr in planloser Blamage untergehen möchten, erinnern wir uns daran, wie das Publikum die einfachste Improvisation bejubelt. Lassen wir den Applaus von uns selbst und anderen einfach auf uns zukommen. Und dies ohne ein bürgerliches Drama aufführen zu müssen.

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