«Das Theatertreffen ist kein Oscar, sondern ein Vorschlag zur Vielfalt der Schweizer Szene»

Vom 21. bis 25. Mai kehrt das Schweizer Theatertreffen (STT) in Zug und Luzern ein, um die aktuellsten Produktionen der nationalen Szene zu präsentieren und sich über die zeitgenössische Theaterlandschaft, ihre Potenziale und Probleme auszutauschen. Als Medienpartner:in hat sich frachtwerk mit Julie Paucker, der künstlerischen Leiterin des Festivals, getroffen, um Ein-, Rück- und Ausblicke zu erhalten.

Autor:in:
Léon Schulthess
Titelbild:
Reto Müller

Léon Schulthess: Jedes Jahr findet das STT in einer anderen Region der Schweiz statt. Inwiefern fliessen die lokalen Gegebenheiten und das Theaterschaffen in die Kuration des Festivals mit ein?

Julie Paucker: Ich beachte die Produktionen vor Ort, lade aber nicht primär regionale Stücke ein – diese sind ja bereits präsent. Vielmehr möchten wir der Festivalregion zeigen, was andernorts in der Schweiz produziert wird. Der regionale Einfluss kommt vermehrt im Rahmenprogramm und in der Kooperation mit lokalen Institutionen zur Geltung. Ziel ist eine gesamtschweizerische Vernetzung und Vermittlung aktueller, lokaler Debatten. Wir bringen das Nationale ins Regionale, das sind die Stücke und die professionelle Theaterszene, und bieten lokalen Playern eine diskursive Plattform und Sichtbarkeit.

 

LS: Wie unterscheidet sich die Zentralschweiz als theatraler Raum von anderen Regionen?

JP: Die Zentralschweiz entwickelt ein wachsendes Selbstbewusstsein als Theaterregion und wird im nationalen Kulturdiskurs präsenter. Die regionalen Diskussionen unterscheiden sich aber auch zwischen Luzern und Zug. Luzern hat eine alte Theatertradition und diskutiert über neue Orte und Neubauten, in Zug erlebt man einen Aufbruch zu progressiven Theaterformen und die spezifische Expat-Situation. Die Vielfalt zeigt sich auch in unseren Partnertheatern – vom Luzerner Theater bis zum Burgbachkeller. Die unterschiedlichen Theatersysteme spiegeln die Struktur der Schweiz. Auffällig dabei ist der Unterschied zwischen den Sprachregionen, etwa bei den Stadttheaterstrukturen, welche nur in der Deutschschweiz anzutreffen sind. Es gibt Themen, die die Zentralschweiz ausmachen, aber die Theaterlandschaft verändert sich nicht komplett an ihrer Grenze.

 

LS: Du stellst 17 Produktionen auf die Shortlist für den Preis «Schweizer Theaterproduktion» und lädst daraus sieben ans Festival ein als Sélection. Nach welchen Kriterien triffst du deine Auswahl?

JP: Die Produktionen müssen im Vorjahr, also 2024, uraufgeführt worden sein. Zudem ist es Auftrag des STT, die Sprachregionen zu berücksichtigen – beim kleinen Tessin ist das nicht immer einfach. Die Shortlist bildet diesen Anspruch besser ab, bei der Sélection geht es dann mehr um eine ganzheitliche Festivalkuration, die verschiedenartige Theaterformen beinhaltet. Es darf nicht missverstanden werden, die sieben Stücke der Sélection seien die Besten der Shortlist. Faktor sind auch die Räumlichkeiten der Partnertheater. Natürlich spielt auch mein subjektiver Theatergeschmack mit, mein «coup de coeur». Schliesslich muss ich wissen, warum ich eine Produktion eingeladen habe, wenn dies Leute hinterfragen. Dieser subjektive Aspekt fügt sich in die Linie des Festivals ein.

 

LS: Also ein Abbild deines Geschmackes innerhalb klarer Kriterien?

JP: Ich passe meinen Geschmack an den Anspruch des STT an, die besten Stücke des Jahres zu präsentieren. Es gibt Produktionen, die in bestimmten Kontexten funktionieren, aber dem Niveau des STT nicht standhalten. Theaterschaffende haben hohe Erwartungen, aber auch Blickwinkel, die von der eigenen Theaterkultur geprägt sind. Wir möchten die Offenheit für Neues fördern, sodass die Deutschschweizer:innen beispielsweise ihre Begeisterung für Theater aus dem Tessin oder der Romandie entdecken. Die Stücke müssen deswegen technisch und qualitativ solide sein, sonst landet man schnell bei Vorurteilen, und gleichzeitig müssen sie auch für das lokale Publikum zugänglich bleiben.

Kunst und Widerstand

LS: Das STT versteht sich als Leistungsschau der nationalen Szene. Was bedeutet im zeitgenössischen Theater überhaupt «Leistung» – und wer bestimmt das?

JP: Ich glaube an Talent, Technik und Know-how, mal abgesehen von privilegiertem Zugang zu den Mitteln. Leistung im Sinne von gutem Handwerk lässt sich im Umgang mit Technik wie Licht, Ton etc., aber auch bei Schauspiel oder Choreographie bis zu einem gewissen Grad messen. Dramaturgisch zählt für mich, ob ich die tiefgründige Beschäftigung mit dem Stoff und die Selbstdisziplin für Abstriche spüre. Mich interessieren neue Perspektiven und ich verstehe zeitgenössische Kunst als ernsthafte Auseinandersetzung mit einer aktuellen Welt, die dokumentarisch, poetisch, wild, humoristisch oder blödsinnig sein kann. Meine Kolleg*innen können aber dasselbe Stück uninteressant finden, das ich perfekt für das Festival finde. Deswegen soll man kritisch sein, wenn eine Person über die Auswahl entscheidet, und sich darüber austauschen. Das Theatertreffen ist kein Oscar, sondern ein Vorschlag zur Vielfalt der Schweizer Szene.

 

LS: Du sprachst regionale Unterschiede an. Gibt es eine schweizweite Verschiebung des theatralen Denkens wie auch ästhetische und inhaltliche Tendenzen?

JP: In den letzten Jahren dominierten Repräsentationsfragen: Wer spielt was? Welche Geschichten werden auf den Bühnen erzählt? Wer hat die Worthoheit? Daraus entstanden viele biographische Stücke, die sich auch in der Sélection widerspiegeln. Das Thema Umwelt wird nicht mehr so stark verhandelt. Teilweise hängen diese Themensetzungen auch mit Förderlogiken zusammen. Diese bedingen in der freien Szene die Tendenz zu kleinen Stücken, da das Geld für aufwändigere Projekte schwerer zu erhalten ist. Sie sind auch schwieriger auf Tournee zu bringen. Auffällig ist, dass in den Produktionen das politische Bewusstsein expliziter geworden ist, vor allem aus identitätspolitischer Sicht. Die künstlerische Auseinandersetzung mit sich selbst ist – wenn sie ins Gesellschaftliche weitergedacht wird – sehr politisch. Daher auch unser diesjähriges Festivalthema: Kunst und Widerstand.

 

LS: Die Abstimmung über das neue Luzerner Theater hat gezeigt, dass Stadttheater keine Selbstverständlichkeit mehr sind. Wie muss sich die Theaterlandschaft wandeln, damit sich auch die junge und theaterfremde Bevölkerung mit den Institutionen identifizieren kann?

JP: Das Stadttheater muss sich verändern, aber ich glaube nach wie vor an seine Relevanz, da es in relativ kleinen Städten hochwertige Kunst produziert. Dies entschuldigt keine erschreckenden Probleme, gleichzeitig ist die Infragestellung der Institution gefährlich. Ist sie weg, fehlt ein grosser, zuverlässiger Arbeitgeber und eine Kulturmaschine, die viele Berufe am Leben hält. Moderne Stadttheater tauschen sich mit der freien Szene aus, machen Angebote für junge Leute und stellen sich diverser auf, teils mit gewisser Behäbigkeit. Man muss den Druck zur Neuausrichtung aufrechterhalten, sollte das Stadttheater aber nicht der freien Szene opfern oder es wegen des Verteilungskampfes heruntersparen. Der Schweiz, Luzern und Zug geht es genügend gut, sodass man sich beides leisten könnte. Die Szene darf sich nicht gegeneinander ausspielen lassen. Es ist ja gerade diese Vielseitigkeit: künstlerisch, sprachlich, aber auch strukturell, die unsere Theaterszene so lebendig macht.

 

LS: Das STT richtet sich nicht explizit an junge, theaterfremde Leute. Wie stellt ihr dennoch eine breite Zugänglichkeit her?

JP: Das ist eine Schwierigkeit, weil wir als wandernder Satellit vorab nur am Territorium kratzen können und es unglaublich lange geht, Vertrauen im lokalen Publikum aufzubauen. Aufgrund eines übersichtlichen Werbebudgets sind wir sehr auf die lokalen Partner:innen und ihre Communitys angewiesen, um in der Stadt präsent zu sein und die breite Bevölkerung mit der Qualität abzuholen. Ein Beispiel: Ich lud einmal ein völlig schräges Stück aus der Romandie mit schwer greifbarem Thema ein, nach Schaan in Liechtenstein. Ich zweifelte, ob unsere Theaterschaffenden dorthin gehen und ob sich das lokale Publikum ein unerklärbares französisches Stück geben will. High risk, aber es wurde ein Knaller. Ich glaube, die Qualität setzte sich durch. Normale Theatergänger:innen spüren diese durchaus, man muss sie gar nicht wortreich beschreiben. Dafür muss das lokale Publikum aber kommen und vorab informiert werden, denn kaum sind wir in der Stadt, sind wir schon wieder weg.

«Die fünf Tage bieten unglaublich viel Verschiedenes»

LS: Der Prozess von Theater lebt von Risiko und vom Scheitern. Gab es im kuratorischen Prozess Momente des Irrtums?

JP: Als Dramaturgin beobachte ich Theater, um Irrtümer zu erkennen und zu fördern, da sie mit Kreativität zusammenhängen. Verläuft man sich, wird es interessant. Ich muss spüren, wann ich korrigiere und wann ich etwas frei entstehen lasse. Fürs Irren braucht’s aber das Gefühl, dass es ein Richtig gibt, welches im Theater so nicht existiert. Man verspürt aber eine innere Logik, wenn man Bühnenkreationen nicht gleich versteht, sie aber berühren. Im Festivalkontext ist die Publikumsreaktion unvorhersehbar und ob es zwischen den Sprachregionen funkt. Vor zwei Jahren eröffnete ich im zweisprachigen Fribourg mit Ödipus aus Zürich, und ich dachte: «Best idea ever». Ein Klassiker mit zwei Frauen, ein innovativer Umgang mit dem Text, und man kennt den Stoff sowohl im frankophonen als auch im deutschsprachigen Raum. Eine hochkarätige Produktion in einem Theater, das sich Gastspiele eines Stadttheaters selbst nicht leisten kann. Doch das lokale Publikum kam nicht in den erwarteten Scharen und ich weiss nicht, warum. Denjenigen, die da waren, hat es sehr gefallen, aber warum entstand kein Run? Man kann sich schnell darin irren, was eine bestimmte Stadt aus dem Sessel holt. Umso gespannter bin ich dieses Jahr auf die Eröffnung mit «Die Krume Brot» von Lukas Bärfuss.

LS: So sind wir bereits beim Ausblick angelangt. Worauf freust du dich? Worauf dürfen wir gespannt sein?

JP: Ich ermutige, eine französischsprachige Produktion anzuschauen – mit Übertiteln eine Seltenheit in der Zentralschweiz. Beispielsweise «Dans ton Intérieur» von Julia Perazzini, ein Solo über ihre detektivische Suche nach ihren Wurzeln. Ziemlich crazy, extrem virtuos, aber nachmittags im Südpol Luzern – dazu müssen wir viele Luzerner:innen animieren. Danach spielt im Luzerner Theater eine extrem lustige, dreckige und moderne Überschreibung von «Ein Diener zweier Herren», die Jung bis Alt, Theaterleute und Theaterfremde abholt. Ich bin auf die jungen Stimmen gespannt, die wir unter anderem mit dem Forum junger Theaterschaffender vernetzen, um Theaterbeziehungen über die Sprachgrenzen hinweg entstehen zu lassen. Da mich progressives Theater interessiert, sollte das Programm für ein junges Publikum interessant sein, das natürlich auch vergünstigten Eintritt erhält. Generell lade ich Junge ein, an Workshops und Diskussionen teilzunehmen, beispielsweise über Diversität auf Schweizer Bühnen, über Reichtum und Verantwortung, über Kunst und Widerstand mit Beatrice Fleischlin oder bei der öffentlichen Keynote über Frauen in Leitungspositionen. Die fünf Tage bieten unglaublich viel Verschiedenes. Und Partys gibt es auch. Das Festival soll die Städte bespielen und ein buntes Publikum verbinden, unterhalten und zum Nachdenken anregen.

Verlosung

Infobox

Als Medienpartner:in begleitet frachtwerk das Schweizer Theatertreffen 2025 vom 21. bis 25. Mai und berichtet täglich über Blogs und Social Media. Mittwoch, Donnerstag, Samstag und Sonntag findet es in Zug statt, am Freitag in Luzern. Das ganze Programm, Tickets und weitere Infos findet man hier!