Zack, da hat man ein Cüpli in der Hand, als am 5. Tag die letzten Energiebündel den roten Faden «Kunst und Widerstand» beim Brunch auffädeln. Das Kauen auf süssem Plunder und das Abwischen des Cappuccino-Milchschaums von der Oberlippe kontrastieren die Gespräche über politisch-künstlerischen Aktivismus. Geführt vom Forum junger Theaterschaffender diskutieren die Tischrunden darüber, wie demokratischer Widerstand von der Strasse auf die Bühne und vom Theater in den Alltag gebracht werden kann. Der aktivistische Ausdruck und der zielstrebige Wille zur Veränderung fordern unmittelbar zur Bewegung auf, die über den Gang zum Buffet hinausgeht: Auch das Theater muss seine bequemen Standpunkte verlassen und fortan «Widerbewegung» leisten.
So nötig der Aktivismus ist, so pünktlich erscheint zum STT der neue Band der Reihe «MIMOS – Schweizer Jahrbuch Darstellender Künste». Er ist eine Hommage an die Schauspielerin und Regisseurin Lilo Baur, in dem sie selbst als auch Wegbegleiter:innen, Fachjournalist:innen und Forschende zu Wort kommen. Passend zu Baurs Temperament und Kreativität komme das Buchcover in leuchtend oranger Farbe daher und ist, wie Lilo Baur selbst, mehrsprachig. Im Herbst 2024 wurde sie für ihr Schaffen mit dem Schweizer Grand Prix Darstellender Künste ausgezeichnet.
In der anschliessenden Gesprächsrunde mit Lilo Baur, dem Theaterkritiker Andreas Klaeui, der STT-Kuratorin Julie Paucker sowie dem Intendanten des Théâtre de Carouge in Genf, Jean Liermier, wird das Thema Widerstand erneut aufgegriffen. Dieser werde laut Baur und Liermier im Theater über Inhalte und Stimmen einfacher Leute transportiert und spiegle das STT in der aktuellen Weltlage wider. Paucker äussert die beunruhigende Beobachtung, dass autoritär werdende Regierungen oft als eine ihrer ersten Amtshandlungen in das Theaterschaffen eingreifen. Das Theater werde als bedrohlich eingestuft, da es auf verschiedene Weise die Möglichkeiten des Anderen aufzeige.
Die Verschiedenheit basiert auf Theaterformaten: So stellen sie das «théâtre des images» dem «théâtre des mots» gegenüber, obwohl Konsens darüber besteht, dass die Formen symbiotisch nebeneinander existieren müssen. Ungemein wichtig ist auch die Rolle des Humors im Theater, den Baur mit dem echten Leben vergleicht. Tragödie und Humor gehören zusammen und bedingen sich gegenseitig, um sie zu verkraften. Humorvoll ist auch das Ende der vielschichtigen Unterhaltung, als Lilo Baurs Mehrsprachigkeit nochmals angesprochen wird. Sie denke und träume auf Französisch, und da Französisch eine nasale Sprache ist, sei dies wohl auch der Grund für ihr Schnarchen.
Bei der Abschlussproduktion des STT, «Actapalabra» von Mompart, Gouin & Thien, wird aber nicht geschnarcht. Aufgeweckt reagieren die Kinder im Publikum auf die Frage, ob auch Vierjährige vor Ort sind. «Ja, hier!», ruft ein Mädchen. Dann treten zwei Männlein auf die Bühne. Sie bewegen sich wie Roboter, tragen grüne Regenjacken und haben lustige Clowngesichter. Sie sagen nie etwas, aber wenn sie sich bewegen, erklingen mega oft Töne oder Musik. Die beiden wollen die ganze Zeit einen Apfel fangen, aber der wird immer hochgezogen. Einmal baut einer viele Leitern aufeinander wegen, aber der Clown bekommt Angst dort oben, weil es ja auch voll hoch und klapprig ist. Sie strengen sich richtig an, bekommen den roten Apfel aber leider nie. Dann kommt eine riesige Röhre herunter und pustet Nebel hinaus, bis hinein zu den Leuten. Ein anderes Mal wollen sie einen langen Faden zerschneiden. Alle klatschen unterstützend mit und dann fällt ein richtig grosser Poolball herunter. Das coole «Rundumeli», auf dem sie stehen, dreht sich, und sie rennen umher, tanzen, sind aber auch traurig. Die beiden müssen fest schwitzen, weil sie viel zu viele Kleider tragen, die sie ewig ausziehen und alle beginnen zu staunen und zu lachen. Am Schluss kommt ein zotteliges Waldmonster auf die Bühne, das sie niedlich umarmt. Plötzlich tragen die beiden Clowns Federkleider wie Hühner. Einer klettert sogar in die Leute hinein. Und dann gehen sie glücklich weg.»
Vielleicht hätte das vierjährige Mädchen so von «Actapalabra» erzählt. Denn nach fünf Tagen lauter kritischer Hirnanstrengungen, theaterpolitischer Diskussionen, ästhetischer Interpretationen, hoffnungsvoller Visionen und ernüchternder Weltrealitäten tut es einfach auch verdammt gut, Theater mit den neugierigen Augen eines Kindes zu geniessen.