Von einparkenden Baggern und schwebenden Textwesen – STT #4

Haltung. Sie benötigt ist nicht nur auf der Bühne von Nöten, um Inhalte konsequent zu vermitteln und authentisch zu figurieren, sondern auch im Hintergrund. Um Kollaborationen nachhaltig zu gestalten, um unsichtbare Menschen filmisch festzuhalten, um ungerechte Systeme anzuhalten, um Identitäten Halt zu bieten. All dies hält der vierte Tag des STT bereit.

Autor:in:
Lorenzo Liem, Sarah Melillo, Silas Schmuckli, Léon Schulthess
Hinweise:

In gemütlicher Stimmung tauschen sich am Samstagmorgen im Theater Casino Zug ca. 25 Theaterschaffende über nachhaltige Netzwerke aus. Der Verband «Vert le futur» vermittelt hierfür Hilfestellungen und Initiativen. Es gibt auch Einblicke in die Inklusions-Toolbox des Kleintheaters, das neue Festival «Play» oder die «Tankstelle Bühne» für junge Künstler:innen, bevor man den sonnigen Ausblick über den Zugersee geniesst und im Dunkeln des Kino Gotthard für den Film «Bagger Drama» eintaucht.

Der Regisseur Piet Baumgartner schuf eine äussert feinfühlige Auseinandersetzung mit dem Leben, mit Familie, Herkunft, Liebe, Männlichkeit – und der Scham, über jene Dinge zu sprechen. Baumgartners Geschichte ist so persönlich und individuell wie allgemeingültig und übertragbar. Der Film berührt durch Nähe und fördert eine Konfrontation mit Gefühlen jenseits der sprachlichen Ebene. Das Drama der Bagger als Ode an die Feinheit. Baumgartners Wunsch ist es, Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen, Bubbles zusammenzuführen und Vorurteile abzubauen. Dies gelingt, so scheint es. Übrigens: Wusstet ihr, dass die stillsten Baggerführer ihre Maschinen am schönsten einparken können?

«Grüss euch, Zug!», eröffnet Autor Lukas Bärfuss seine Rede über Reichtum und Verantwortung – freundlich, fast beiläufig. Dann vertieft sich der Ton: Es sei nicht leicht, über Armut zu sprechen. Nicht nur für ihn. In der Schweiz sei Armut ein Tabuthema, als gehöre sie nicht zu diesem Land. Wie wurde die Schweiz, aus der man einst noch ausgewandert ist, zum reichsten Land im Universum? Die gängigen Erklärungen – Neutralität, Unternehmergeist, Weltoffenheit – seien nicht falsch, aber auch nicht richtig. Viel zu selten wird über die Verdingkinder und Zwangsarbeiter:innen als Teil dieses Reichtums gesprochen. Gleichzeitig ist die Schweiz heute auch hoch verschuldet, zumindest privat – ein symptomatischer Kontrast. Bärfuss wechselt die Sprache, benennt das wirtschaftsliberale Vokabular neu: Die Schweiz sei kein «Steuerparadies», sondern eine «Steuereinöde». «Sparen» bedeute Privatisierung öffentlicher Güter. Es gehe nicht nur um Geld, sondern um Verteilung, Verantwortung und Würde.

Bärfuss spricht mit biografischer Wucht: Zwischen 16 und 20 Jahren lebte er ohne festen Wohnsitz. Er berichtet von der Realität der Obdachlosigkeit, von den Hürden der Arbeitslosigkeit und vom Zugang zur Sozialhilfe. Die durchschnittliche Lebenserwartung wohnungsloser Menschen liege bei 49 Jahren. Selbst eine Privatinsolvenz müsse man sich «leisten können» – sie koste rund 5000 Franken. «Es herrscht ein Krieg gegen die Armen», sagt Bärfuss und fordert eine radikale Reform der Sozialhilfe, bundesweit verbindliche Standards und eine Sprache, die nicht tabuisiert, sondern sichtbar macht.

Wenn das Publikum in Mitverantwortung gezogen wird

«Wessen Herz voll ist, dem geht der Mund über», beendet der erfolgreiche Schriftsteller sein Votum. Da längst nicht alles gesagt ist, folgt das Podium mit dem Zuger Kulturschaffenden Dino Šabanović, der Theaterschaffenden Eva-Maria Bertschy und der Umweltsoziologin Zsuzsa Borsa. Sie diskutieren die Schere zwischen Arm und Reich, unternehmerische Verantwortung, politische Umsetzbarkeit und die Rolle des Theaters – ausgerechnet in Zug, im schicken Saal des Theater Casino. Bertschy verweist auf den Vorwurf, Theater sei «zu politisch». Bärfuss entgegnet: «Das Theater ist dem Publikum nicht zu politisch. Es ist entweder gut oder schlecht.» «Gut oder schlecht» trifft auch auf die Meldung zu, dass Luzern ist neu die vermögendste Stadt der Deutschschweiz ist, dank dem Überschuss von 125 Mio. Franken (!!!) Ende 2024. Zu wem wird dieses Geld wohl nicht umverteilt…?

Nicht zu Produktionen wie «Blutbuch». Auch da waren wir. In der Chollerhalle Zug. Wir, das war ein Publikum, das bald selbst Teil der Inszenierung wurde. Der Abend begann nicht mit einem klaren Anfang, sondern stand ganz im Zeichen des gemeinsamen Werdens. Die Performerin Lucia Kotikova trat nicht auf – sie war einfach da. Sie begann mit dem Publikum zu sprechen und zu improvisieren, was mitunter die Untertitelung ins Wanken brachte. «Bald geht’s los», hiess es immer wieder, bis irgendwann klar wurde, dass wir schon mittendrin waren. Kotikova verkörperte eine autofiktionale Figur im Entstehen – ein Textwesen zwischen Identitäten, Sprache und Körper. 

Im Zentrum stand die Forderung nach Mitgefühl. Kotikova forderte die Nähe des Publikums ein und stellte es unter Beobachtung – ein Scheinwerfer leuchtete direkt in die Zuschauer:innen hinein. «Hört ihr mich alle?» Das Publikum war sichtbar, ansprechbar, einbezogen. Nur in dieser Offenheit konnte sich der Stoff des Blutbuchs entfalten. Der Text verlangte viel – emotionale Präsenz, das Aushalten von Unsicherheit, das Aufgeben binärer Kategorien. Nach und nach öffnete sich der Raum für Passagen aus dem Roman «Blutbuch» von Kim de l’Horizon. Kotikova spielte Szenen, zitierte und schrie. Nie war ganz klar: Was ist festgelegt? Was entsteht im Moment? Die Grenzen zwischen Bühne und Publikum, zwischen Figur und Performerin, zwischen Text und Improvisation verschwammen.

«Blutbuch» ist ein Text über Transformation, über das Loslassen und das Werden. Mit grosser Sensibilität und Schonungslosigkeit durchdringt die non-binäre Erzählstimme eine Familiengeschichte, einen Körper, eine Sprache. Um diesen Text auf die Bühne zu bringen, braucht es keine geschlossene Form, sondern eine Haltung in der Schwebe – immer offen, unfertig, im Moment. Regisseur Sebastian Schug hat dafür eine Form gefunden, die es Kotikova ermöglicht, jeweils neu zu entscheiden, welche Stellen sie wählt. Die Performance bleibt im Gespräch mit dem Publikum, reagiert und verändert sich. Die Bühne wird zu einem Raum, in dem man sich aussetzen muss – als Zuschauer:in, als Figur, als Erzähler:in.

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