In der Theaterbox des Luzerner Theaters spricht Dr. phil. Andrea Zimmermann von der aktivistischen Forschungsplattform «Art of Intervention» über die Frauen in kulturellen Leitungspositionen und fragt nach notwendigen Ressourcen und Reflexionsprozessen. Aufgrund der rückständigen Schweizer Bürokratie beschränkt sich die Datenlage nur auf das binäre Geschlechtssystem. Da unser Magazin jedoch nicht dem Bundesamt für Justiz angegliedert ist und die Folgen nicht nur cis-Frauen betreffen, schreiben wir FINTA*.
Dass in der Sparte Theater/Tanz die meisten FINTA* in den Leitungsebenen vertreten sind, beschönigt die generelle Unterrepräsentation nur oberflächlich. Der Fakt, je grösser der Betrieb, desto eher eine männlich gelesene Leitung, bestätigt einmal mehr den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Kapital. Zudem hängt die Führungspräsenz weiblich gelesener Personen nicht mit ihrem tatsächlichen Machtspielraum und einem sicheren Arbeitsumfeld zusammen. Fast schon ironisch, dass bei der Kritik an patriarchalen Strukturen eine nervige Baustelle von aussen dazwischen lärmt und die Stimmen erhoben werden müssen – aber genau darum geht es ja.
An vier Longtables wurde Wissen und Erfahrung für geschlechtssensible und diverse Führungsstrukturen weitergegeben und reflektiert. Konsequente Care-Arbeit in allen Positionen und im künstlerischen Anspruch soll Kompetenzen und Ressourcen transparent vermitteln und psychologische Sicherheit schaffen. Ein mutiges Selbstverständnis als Leiter:in müsse abseits der männlichen Geniefigur wachsen, und auf kollektive Veränderung beharren, Nachfolger:innen ausbilden, Fehler zulassen und die Macht zur Gestaltung reclaimen, damit dafür mehr Geld, Präsenz und Zeit zur Verfügung gestellt werden.
Wenig Zeit hatte auch die Simultanübersetzerin, die sich nach dem Schnellspurt von Andrea Zimmermann ausgeschnauft für ihre Inputs bedankte. Deswegen widmen wir ein grosses Dankeschön an die Simultanübersetzer:innen, die gekonnt mit den Landessprachen jonglieren und Zugänglichkeit schaffen. Ebenso bedanken wir uns beim Südpol für das leckere Mittagessen, welches von t. Zentralschweiz mit Fragen über die Kulturlandschaft dekoriert wurde.
Gestärkt geht es in das Gespräch über Diversität auf Schweizer Bühnen mit Kojack Kossakamvwe, dem musikalischen Co-Leiter der group50:50, Living Smile Vidya, der Trans-Aktivistin und Performerin, Julie Paucker, der künstlerischen Leiterin des STT, Julia Reichert, der Co-Direktorin des Theater Neumarkt, und dem Regisseur und Dramaturgen Marcel Schwald.
Sofort wird der Begriff Diversität als zweigeteilt hinterfragt: Als kulturpolitisches Buzzword ermöglicht er Gelder und Forschung, gleichzeitig verwässert er die Bedeutung als Repräsentation des öffentlichen Lebens. Aus dem Publikum wird der machtkritischere Begriff «Intersektionalität» präferiert. Und wenn laut BAK sich ein Viertel kultureller Besucher:innen fehl am Platz fühlt, wird der Kern der Diversität oder Intersektionalität noch immer weit verfehlt.
Das transkulturelle Musiktheater group50:50 zeigt, wie die Suche nach dem Gleichgewicht unterschiedlicher kultureller Identitäten produktive Überraschungen, Kompliz:innenschaft und Respekt befördert und sprachliche Miss- und Unverständnisse ausräumt. Ein Live-Beispiel hierfür ist gerade das Podium, bei welchem die Beteiligten charmant und unaufgeregt zwischen Englisch, Deutsch, Französisch und den Übersetzungen umherirren. «Ihr dürft uns auch sagen, wenn wir die falsche Sprache sprechen», grinst Julie Paucker zum Publikum, und alle lachen in eigener Tonlage.
Da Kooperationen nur in Ausnahmefällen nachhaltig zugänglich bleiben, bedingt die breite Inklusion immigrierter Künstler:innen Räume ihrer aktiven Mitgestaltung in der Produktion, in der Institution, im Alltag. Wie Diversität nicht nur ausgesprochen sondern verkörpert und umgesetzt wird, muss die Szene aber gemeinsamen weiter aufarbeiten. Nutzen wir also die heutigen Inputs und Lösungsansätze und lassen Taten folgen – wir sind gespannt, ob sich beim nächsten STT Resultate zeigen.
Gerne hätten wir die Produktion der Soloperformerin Julia Perazzini, «Dans ton Intérieur», genossen, doch das prall gefüllte Interieur unserer Köpfe mussten wir bei einer Pause durchlüften, um danach mit der Inszenierung «Das komische Theater des Signore Goldoni» den dritten Tag zu beenden. Max Merkers Fassung des Klassikers «Der Diener zweier Herrn» von Carlo Goldoni gastierte im Luzerner Theater, das Ensemble des Theaters St. Gallen präsentierte einen Abend voller Schauspiellust. Eine Reise durch die Theater- und Dramengeschichte, die Fragen rund um Autor:innenschaft genauer unter die Lupe nimmt. Die Überschreibung von Martin Bieri erweckt den zuweilen meist verstaubten Text zu neuem Leben, setzt sich zugleich mit der Bedeutung von Sprache auseinander. Im Stil der Commedia dell'Arte (oder doch eher all'improvviso?) gehalten, amüsiert das Stück auf unterschiedlichen Ebenen – Musik, Kostüme, Bühnenbild, historische Bezüge. Und auch thematisch schliesst die Inszenierung den Bogen zum Beginn des heutigen Tages: Sie zeigt, was hinter dem Vorhang geschieht, und legt offen, dass durch dessen Schliessen das Handeln nicht endet. Sogar Statements der morgendlichen Longtables lassen sich in der Aufführung wiederfinden: FLINTA* gehören in Leitungspositionen, deren Arbeit ist als solche zu benennen. Selbst wenn sich Signore Goldoni dies nicht eingestehen wollte. Zeit, diese Strukturen zu brechen, auf und neben der Bühne.
Schon mal mit dem Gedanken gespielt, in einem französischsprachigen Theaterprojekt mitzuwirken? Dann wäre der offene Austausch am Samstagmorgen namens «Collaborazioni» für dich. Während man nochmals die Chance des Pedalo Speeddating nutzen oder sich über die Inklusionsstrategie des Kleintheaters informieren kann, wird im Kino Gotthard der Spielfilm «Bagger Drama» gezeigt. Lukas Bärfuss referiert danach über Reichtum und Verantwortung und mit der Inszenierung «Blutbuch» findet der Höhepunkt in der Chollerhalle statt. Ausklingen lässt sich der abwechslungsreiche Tag mit der Silent Disco oder nochmals mit dem Workshop von Beatrice Fleischlin.